1811 Es beginnt wieder
Gestern glaubte ich, es beginnt wieder.
Und es hatte auch begonnen: zuerst ist meine Wahrnehmung
verdunkelt und an den Rändern schwarz geworden; ich geriet in einen
Alarmzustand und in eine Entfremdung wie unter Drogen. Mein Sehen hat zu laufen
begonnen: wie die Bilder bei so mancher Störung von Fernsehübertragungen zu
laufen und zu zucken beginnen. So war das live bei mir, das, was ich sehe, der
Raum vor mir springt weg und kommt wieder und springt wieder weg, immer wieder,
unaufhörlich, again and again.
Panik und Todesangst hatten sich herangeschlichen und
griffen nach mir, wollten mich packen, aber ich habe ihnen sanft widerstanden:
ich habe mir nicht erlaubt, in Panik zu verfallen, habe bewußt tief geatmet und
der aufkommenden Übelkeit verboten, von mir total Besitz zu ergreifen. Ich habe
mich vorsichtig und bedachtsam bewegt, konzentriert darauf achtend, das
Gleichgewicht nicht völlig zu verlieren, denn jede Bewegung, vor allem des
Kopfes, hat Schwindel ausgelöst. Da habe ich mich ein wenig in mein Zimmer
zurückgezogen – meine Bücher- und meine Bilderwände – alle sind sie ständig
nach links gezuckt – und habe versucht, mich auszuruhen. Als ich wieder stabiler
war, habe ich mich wieder erhoben und mich wiederum behutsam bewegt, bin wieder
in die Küche runter, meine unterbrochene Arbeit fortzusetzen zu probieren, habe
also wachsam den Geschirrspüler eingeräumt – das Hinunterbeugen war eine
Herausforderung – aber ich wollte mich keinesfalls der herankommenden Panik
ausliefern und preisgeben, sondern sie durch sehr bewußtes und konzentriertes,
aber normales Tun vertreiben. So ähnlich, wie ich früher als Betrunkener
gekämpft habe, zum Beispiel den Weg nach Hause zu schaffen und der Dunkelheit
mit dem letzten Rest normaler Wachheit und Bewußtheit, mit dem letzten
zusammengekratzten Willen eisern zu widerstehen.
Dann, als ich noch stabiler war, habe ich mich bewußt mit
Kabarett abgelenkt, sodaß ich nach einiger Zeit fast unmerklich, aber doch
deutlich eine durchsichtige, magische Membran durchstoße und durchschritten
habe und ich wieder voll da und normal war und mein Sehen wieder ruhig und fest
und ohne jedes Flimmern am Rand.
Heute bin ich dann, nachdem ich vorher einen Ausflug zu
einer Kundenservicestelle – wie sich die euphemistisch nennt - der
Gesundheitskasse – wie sich die euphemistisch nennt – gemacht habe und dabei
ein Stück gefahren und dann den im Sonnenlicht und mit den austreibenden
Roßkastanien und Platanen wahrhaft prächtigen Boulevard der Lassallestraße
hinuntergewandert bin (obwohl ich es als hinaufgehen empfinde – aber ich gehe
der Donau zu) um meinen Bettelantrag zur Teilrefundierung meiner
Psychotherapiekosten für März abzugeben, obwohl ich jetzt im April noch nicht
einmal die für Februar erhalten habe – bei so Unternehmern wie den Kitzlöchler
Liftbetreibern, den Pierers und Benkos und wie sie alle heißen, geht es bei der
Staats- und staatsnahen Bürokratie vermutlich viel zacker, zacker – kurz, nachdem
ich diese Wanderung mit toller Mundschutzmaske aus selbstbedrucktem Stoff
erledigt habe und wieder zu Hause war, bin ich dann den Escalator over the Hill
hinaufgefahren und beim Anhören von Zeit zu Zeit in einen angenehmen,
köstlichen, erholsamen, erquickenden und kontemplativen Schlaf gefallen.
Und jetzt werde ich an den Mittagstisch gerufen zu einem
guten, von Frau und Tochter liebevoll zubereiteten Mahl und ich werde essen und
hoffe, daß dies Leib und Seele beieinander halten wird.
(2.4.2020)
©Peter Alois Rumpf, April 2020
peteraloisrumpf@gmail.com
0 Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Abonnieren Kommentare zum Post [Atom]
<< Startseite