1145 Der Diagnosetest
Ich sitze direkt vorm Luftballonherz, das sich noch immer in
den Luftwirbeln der U-Bahnzüge dreht. Ich schaue auf die häßlichen Wände unten
und auf die schönen Mosaike oben. Ich bin wieder einmal überpünktlich. Ich
warte auf den Termin zu einem vierstündigen psychologischen Diagnosetest, ob
ich für eine Traumatherapie – sozusagen – geeignet bin. Aufputschen tu ich mich
über den MP3 mit „Mother's Milk“ (wie sinnig!) von den RHCP.
Was für eine Farce: vier Stunden (tatsächlich waren es dann
fünfdreiviertel. Ich war komplett fertig! Nachtrag 19.10.) wollen sie brauchen
um herauszufinden, was ich weiß: daß ich schwer traumatisiert bin. Das merke
ich doch an jeder meiner alltäglichen Reaktionen. Zum Test hinzugehen ist eine
Unterwerfung meinerseits an das System (und meine Unterwerfungen sind dann
gründlich!), um die Therapie bezahlt zu bekommen. Selber bezahlen könnte ich
sie nicht, auch weil ich nicht auf mich und meine Bedürfnisse schauen und mich
– auch finanziell – nicht behaupten kann. Ein fauler Kompromiß, weil ich
einsehen muß, daß ich es allein nicht schaffe. Mich gibt es eigentlich gar
nicht. (Das hindert mich nicht, blöd herumzuschauen; im Gegenteil: ich glaube
ja deswegen immer, frau sieht mich nicht.)
Das Luftballonherz dreht sich ganz leise, dreht sich gegen
den Uhrzeigersinn ein, dann mit dem Uhrzeigersinn aus. (Meine Brillen sind
schon sehr verschmiert.)
Es ist interessant, zwischen lauter eilenden Menschen etwas
Zeit zu haben.
Das Dröhnen des U-Bahnzugs spüre ich als Vibration in meinem
Körper. Ich versuche, die vorbeischwebenden Gesichter unauffällig zu lesen –
aber ich verstehe gar nichts. Manchmal glaube ich, etwas zu erahnen, aber es
geht zu schnell und mir zerbröselt meine Erkenntnis, bevor sie da ist. Manchmal
ergibt sich daraus Augenkontakt, den ich immer, meistens beide, sofort
abbrechen.
Ein Schrecken durchfährt mich: habe ich die Adresse meines
Termins vergessen? Ja. Aber ich finde einen Zettel, wo sie draufsteht.
Immer habe ich solche Angst. Die halbe Nacht konnte ich
wegen dem Termin nicht schlafen. Als würde ich zu einer Gerichtsverhandlung mit
drohender Verurteilung müssen. (Müssen? Wieso „müssen“?) Liebe RedHots, bitte
putscht mich ordentlich nach vorne!
Ich lasse einen U-Bahnzug nach dem anderen abfahren ohne
einzusteigen. Ich brächte es aber nicht zustande, den Termin platzen zu lassen.
In Gehorsam gefangen. Ich trage mein T-Shirt mit der Aufschrift „fluchtbereit“.
Was für eine Angeberei! Ich würde erstarren und mich ohne Gegenwehr abführen
lassen.
(17.10.2018)
©Peter Alois Rumpf Oktober
2018 peteraloisrumpf@gmail.com
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