Samstag, 20. Oktober 2018

1145 Der Diagnosetest


Ich sitze direkt vorm Luftballonherz, das sich noch immer in den Luftwirbeln der U-Bahnzüge dreht. Ich schaue auf die häßlichen Wände unten und auf die schönen Mosaike oben. Ich bin wieder einmal überpünktlich. Ich warte auf den Termin zu einem vierstündigen psychologischen Diagnosetest, ob ich für eine Traumatherapie – sozusagen – geeignet bin. Aufputschen tu ich mich über den MP3 mit „Mother's Milk“ (wie sinnig!) von den RHCP.

Was für eine Farce: vier Stunden (tatsächlich waren es dann fünfdreiviertel. Ich war komplett fertig! Nachtrag 19.10.) wollen sie brauchen um herauszufinden, was ich weiß: daß ich schwer traumatisiert bin. Das merke ich doch an jeder meiner alltäglichen Reaktionen. Zum Test hinzugehen ist eine Unterwerfung meinerseits an das System (und meine Unterwerfungen sind dann gründlich!), um die Therapie bezahlt zu bekommen. Selber bezahlen könnte ich sie nicht, auch weil ich nicht auf mich und meine Bedürfnisse schauen und mich – auch finanziell – nicht behaupten kann. Ein fauler Kompromiß, weil ich einsehen muß, daß ich es allein nicht schaffe. Mich gibt es eigentlich gar nicht. (Das hindert mich nicht, blöd herumzuschauen; im Gegenteil: ich glaube ja deswegen immer, frau sieht mich nicht.)

Das Luftballonherz dreht sich ganz leise, dreht sich gegen den Uhrzeigersinn ein, dann mit dem Uhrzeigersinn aus. (Meine Brillen sind schon sehr verschmiert.)

Es ist interessant, zwischen lauter eilenden Menschen etwas Zeit zu haben.

Das Dröhnen des U-Bahnzugs spüre ich als Vibration in meinem Körper. Ich versuche, die vorbeischwebenden Gesichter unauffällig zu lesen – aber ich verstehe gar nichts. Manchmal glaube ich, etwas zu erahnen, aber es geht zu schnell und mir zerbröselt meine Erkenntnis, bevor sie da ist. Manchmal ergibt sich daraus Augenkontakt, den ich immer, meistens beide, sofort abbrechen.

Ein Schrecken durchfährt mich: habe ich die Adresse meines Termins vergessen? Ja. Aber ich finde einen Zettel, wo sie draufsteht.

Immer habe ich solche Angst. Die halbe Nacht konnte ich wegen dem Termin nicht schlafen. Als würde ich zu einer Gerichtsverhandlung mit drohender Verurteilung müssen. (Müssen? Wieso „müssen“?) Liebe RedHots, bitte putscht mich ordentlich nach vorne!

Ich lasse einen U-Bahnzug nach dem anderen abfahren ohne einzusteigen. Ich brächte es aber nicht zustande, den Termin platzen zu lassen. In Gehorsam gefangen. Ich trage mein T-Shirt mit der Aufschrift „fluchtbereit“. Was für eine Angeberei! Ich würde erstarren und mich ohne Gegenwehr abführen lassen.









(17.10.2018)











©Peter Alois Rumpf    Oktober 2018     peteraloisrumpf@gmail.com

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