1137 Ich reiße mich los
Ich reiße mich los, um mich zu rasieren und unter die Dusche
zu schmeißen. Das kommt doch erst später! Das ist der Schlußsatz. Noch hockst
du im Bett über deinem Notizbuch. Wie wickle ich die vom Ende her begonnene
Geschichte jetzt ab?
Ganz still ist es nun. Nur meine Sirenen singen etwas
schrill. Ich drehe das Handy auf, denn schließlich hat der Tag schon begonnen.
Ein verhärtetes Stück Haut vom Nagelbett meines rechten Ringfingers kratzt beim
Schreiben mit unangenehmen Ton am Papier.
Mir fällt mit leichtem Erschrecken ein, daß ich diesen
Sommer nur ein einziges Mal schwimmen war. Und bis jetzt noch nie wandern.
Heute wäre der genau richtige Herbsttag dafür, aber ich werde es nicht machen.
Warum nicht, weiß ich selber nicht. Tageswanderungen waren früher mein liebstes
Entspannungsmanöver. Wenn ich's nicht mehr ausgehalten habe, bin ich
losgegangen. Seit meiner Panikattacke ist das genauso abgestorben wie meine
Tensegritypraxis. Was ist da passiert? Mein Kopf wird ganz schwer und müde,
mein Herz traurig. Verstehen kann ich das nicht. Diese Trauer wird schwerer und
will mich wieder in den Schlaf drücken; etwas Angst gesellt sich dazu und
versetzt mich in leichten Alarm, der mich wieder aufweckt. Das verstehe ich
jetzt überhaupt nicht.
Ich nehme mir für morgen eine solche Wanderung nach
Heiligenkreuz vor. Ich werde völlig aufgeregt – hej! Verdammt! Was ist da los?
Schnappe ich jetzt über? Diese Wanderung habe ich doch schon hunderte Male
gemacht; zu allen Jahreszeiten; besonders gerne im Herbst. Warum diese
Aufregung und Abwehr? Ist es des Zieles wegen? Heiligenkreuz? Weil du endgültig
mit der Kirche gebrochen hast? Oder weil das Stift, als es noch ein Knabeninternat
hatte, eine Stätte des Kindesmißbrauchs war, wie zum Beispiel Adolf Frohner,
der als Kind dort im Internat war, berichtet hat?
Du bist doch früher auch in der Lobau herumgerannt wie ein
Irrer, hast alles Ecken und Enden erkundet – das wäre doch auch eine
Möglichkeit. Das zieht dich auch nicht an? Was ist los? Warum geht das nicht
mehr? Ich versuche, mir die Glücksmomente und Landschaftsbilder bei den vielen,
vielen kleinen Wanderungen im Umland von Wien vor mein inneres sehendes und
fühlendes Auge zu rufen, sehe das auch vor mir, aber es zieht mich nicht so
richtig an. Etwas sperrt sich dagegen.
Mir fällt auch ein, daß ich seit der Panikattacke keine
Selbstmordphantasien mehr habe. Das soll mir nur recht sein, aber wie paßt das
zusammen? Ich verstehe immer weniger.
Wurde ich durch die Attacke so in mich gejagt, daß ich mich
nicht mehr hinaus traue? Angst vor der Welt? Lebensangst? Alles nicht neu, aber
verschärft? So richtig verstehe ich es trotzdem nicht.
Tiefer Seufzer. Na gut, ich will darauf vertrauen, daß das
ein Heilungsprozeß ist. Ich habe es bisher immer als heilend empfunden, durch
Wälder und über Wiesen und Felder zu wandern. Mit der Wanderung morgen wird es
nichts.
Ich reiße mich jetzt los, um mich zu rasieren und unter die
Dusche zu schmeißen.
(10.10.2018)
©Peter Alois Rumpf Oktober
2018 peteraloisrumpf@gmail.com
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