1133 Birgit Minichmayr oder meine Bühnenkarriere
Wenn ich an die Anfänge meiner Bühnenkarriere (hüstel,
hüstel) denke, tauchen im Dunkeln meines immer schlechter werdenden Gedächtnisses
Erinnerungen an Krippenspiele – der Beginn vieler Karrieren der darstellenden
Kunst – auf, zum Beispiel im alten Irdninger Pfarrsaal – immerhin ist der
Pfarrhof ein Renaissancebauwerk und da bekommt man als sensibler Mensch schon
eine gewisse Ästhetik mit – Näheres entzieht sich jedoch meines Zugriffs.
Etwas besser erinnere ich mich an ein Theaterstück über die
vier Jahreszeiten in der Volksschule – dritte oder eher vierte Klasse. Eine
Lehrerin hat das mit uns einstudiert und wir sind in den frühen Sechzigerjahren
des zwanzigsten Jahrhundert (pädagogisch und so). Ich war der Herbst, von dem
ich wirklich glaube, daß er meine Jahreszeit ist. Der Seeberger Rudi
spielte den Winter, die Wutte Fritzi den hüpfenden Frühling, der Tauscher Toni
den Sommer.
Irgendwann war unsere Regisseurin mit meiner Leistung nicht
zufrieden – zu schüchtern, zu leise, zu verhalten – und legte für mich noch
eine Extraprobe ein. An dem Nachmittag also gehe ich zur Probe, und weil ich
mich wegen dieser Extraprobe geschämt habe, habe ich das „Extra“ vor meinen
Eltern verheimlicht.
Wie das dann genau abgelaufen ist, weiß ich nicht mehr,
jedenfalls trifft mein Vater an diesem Tag den Tauscher Toni – mein Vater
kannte die Familie sehr gut, weil er früher dort in Untermiete gewohnt hatte –
und fragt ihn, ob er denn jetzt keine Probe habe. So, damit war ich
aufgeflogen. Zu Hause wurde ich dann gefragt, warum ich nicht gesagt habe, daß
das sozusagen eine Strafprobe wegen schlechter Leistung war und meine Mutter
ist dann auch gleich darauf aufgesprungen, was ich beim Theaterspielen nicht
gekonnt und warum ich wieder versagt habe. Dazu muß ich festhalten, daß
ich für meine Eltern überall Spitzenleistungen hätte erbringen sollen: beim
Fußball, Mathematik, Pflanzenkunde, Theaterspielen, Schule überhaupt,
Schifahren, Sport überhaupt, Flöten und Geigenspielen, gesellschaftliche
Gewandtheit und und und … sie wollten halt so gerne mit mir angeben (aber
übertreffen hätte ich sie nicht dürfen).
Gut: an die Aufführung – wenn mich mein Gedächtnis nicht im
Stich läßt: im Hof der neuen Volksschule – kann ich mich nicht mehr erinnern.
Irgendwie werden wir die Sache schon hinbekommen haben.
Nach der Matura zog ich nach Graz, um Theologie zu studieren
und da lernte ich den Alois Neuhold (Neuvalis) kennen, einige Semester über
mir, der mich mit seiner christlich-närrischen Unbekümmertheit und seinem
Gottvertrauen – es wird erzählt, er soll mit seinem alten NSU-Prinz, bei dem ab
einer gewissen Geschwindigkeit der vordere Deckel aufgesprungen ist und die
Sicht verstellt hat, trotzdem mit Gottvertrauen weitergefahren sein und es ist
auch nie etwas passiert – sehr beeindruckt, und der mir die bildende Kunst (vor
allem Klee) und die klassische Musik erschlossen und mich zu seiner
Jugendgruppe nach Hönigtal mitgenommen hat. Da gab es dann das Theaterprojekt,
das in katholischen Kreisen beliebte Apostelspiel von Max Mell aufzuführen.
Darin geht es um ein armes, naives, ganz frommes Mädchen (Magdalen), das mit ihrem
Großvater in der Einschicht lebt. Eines Tages klopfen zwei verwilderte Soldaten
an die Tür und bitten darum, hier übernachten zu dürfen. Der Großvater erlaubt
es, aber die zwei führen nichts Gutes im Schilde. Für das Mädchen jedoch sind
die zwei die Apostel Petrus und Johannes und sie spricht sie auch als solche an
und mit ihrer unschuldigen Gläubigkeit rührt sie die beiden so ans Herz, daß
sie von ihrem Vorhaben abkommen und ihr verkommenes Leben zu überdenken
beginnen.
Ich war als der Johannes vorgesehen und unser Regisseur war
der Schauspieler Fladerer vom Stadttheater Graz, der die bösen Gesellen in
einen bolschewistischen Kontext stellte und vor allem den Johannes (in der
Bibel als einer der zum Fanatismus neigenden Donnersöhne bezeichnet) als
„idealistischen“ - also vorstellungsfanatischen - vom Leben abgehobenen und
deshalb lebensverachtenden Eiferer zeichnete – im Gegensatz zum etwas
bodenständigeren Petrus.
Das ganze Projekt hat sich hingezogen, der Petrus ist
abgesprungen. Der Regisseur wollte auch nicht mehr weitermachen und so ist die
Sache für eine zeitlang eingeschlafen. Sie wurde dann aber wieder aufgenommen,
ein junger Student übernahm die Regie, ein Petrusdarsteller wurde gefunden und
die Proben wieder aufgenommen.
Mein Problem dabei war, daß ich inzwischen selber zu einem
„idealistischen“, kopflastigen und lebensverachtenden „Revolutionär“ heran –
gereift kann man nicht sagen. Ich hatte meinen katholischen Glauben verloren,
sah mich als radikalen Linken (alles nur in der Vorstellung, im Kopf) und war
gerade dem Verband sozialistischer Studenten beigetreten. Andererseits wollte
und konnte ich den Alois und seine Jugendgruppe nicht im Stich lassen. So
radelte ich zu den Proben nach Hönigtal, später dann fanden sie in Graz statt.
Ich verheimlichte es ängstlich vor meinen neuen Genossen, daß ich an so einem "reaktionären, klerikalfaschistischen" Stück mitmache und fürchtete, daß das
auffliegt.
Das Stück wurde zweimal aufgeführt, wenn ich mich richtig
erinnere in Eggersdorf, und der im Publikum sitzende Fladerer soll gesagt
haben, daß ich am routiniertesten gespielt habe (obwohl ich einen ordentlichen
Hänger hatte).
Jetzt überspringen wir einige theaterlose Jahrzehnte und
landen im einundzwanzigsten Jahrhundert, so cirka vor acht, neun Jahren. Ich
war inzwischen verheiratet und hatte zwei Kinder, aber nur einen schlechten und
immer schlechter bezahlten Job als sogenannter „neuer Selbständiger“ in der
Meinungsforschung, das heißt: keine Pensionsversicherung, keinen bezahlten
Krankenstand, keinen bezahlten Urlaub, von 13. und 14. Monatsgehalt ganz zu
schweigen, unsicheres Einkommen, unsichere Auftragslage – wenn keine Aufträge
da waren, gab es keine Arbeit und keinen Verdienst, Bezahlung nur pro fertiges
Interview – es konnte ohne weiteres vorkommen, daß man ein oder zwei Stunden
unbezahlt die falschen Telefonnummern aussortiert hat. In meiner Verzweiflung
versuchte ich jeden Strohhalm zu ergreifen, und so bewarb ich mich auch als
Statist beim Burgtheater. Ich wurde photographiert, ein paar Daten wurden
aufgenommen, ich kam in eine Datei und hörte mindestens ein Jahr nichts.
Irgendwann kam ein Anruf vom Burgtheater. Ich war verwirrt,
denn ich hatte diese Bewerbung schon längst vergessen. Als ich endlich im Bilde
war, worum es ging, reagierte ich eher ablehnend, denn ich hatte gerade einen
besseren Job als vorher, auch in der Meinungsforschung, bekommen, mit Bezahlung
nach Stunden und fix angestellt. Damit war ich zeitlich aber nicht mehr so
flexibel.
Da sagte der Anrufer, daß es um Lulu mit Birgit Minichmayr
geht und ich in der Szene als Statist allein mit der Minichmayr auf der Bühne
wäre, was ja nicht jeder von sich sagen könne. Ja das stimmmt!, dachte ich. Und
– wow! - die Minichmayr! Nicht nur, daß sie eine große Schauspielerin ist,
sondern auch eine schöne Frau - finde ich. Also erklärte ich mich bereit, zum
Casting zu gehen.
Beim Casting stellte sich heraus, daß man einen Diener
darstellen sollte, der ein Tablett mit irgendwelchen Getränken trägt und der
Lulu serviert. Und daß der Diener nicht alleine mit der Minichmayr auf
der Bühne ist.
Leider hatte ich zu dieser Zeit schon große Probleme mit
meinem Kreuz und gerade in diesen Tagen eine solche akute Schmerzphase, daß ich
kaum gehen konnte. Trotzdem fuhr ich zur Probe, wo man den Gang mit dem Tablett
zeigen sollte und ich konnte nur unter großen Schmerzen meinen Probelauf
machen, verschärft dadurch, daß in einer solchen Phase das Vor-sich-her-Tragen
von auch nur leichten Dingen (Kraneffekt) meine Schmerzen um einiges
verschärfte. Übrigens waren hauptsächlich alte Herren zum Casting geladen.
Jedenfalls wurde ich nicht genommen.
Einige Zeit später las ich, daß das Stück abgesagt wurde, da
die Minichmayr („die Minichmayr!“ - ich will halt auch ein bißerl den
Theaterjargon mich verwenden trauen) aus dem Projekt ausgestiegen ist, weil sie
sich vom Regisseur nicht beschützt fühlte.
Aber seitdem gehe ich mit dem Scherz hausieren: „selber
schuld, liebes Burgtheater!, warum hast du mich nicht genommen? Denn wenn du den Rumpf nicht nimmst, will
auch die Minichmayr nicht spielen!“
Aber jetzt im Ernst: das Stück ist doch wirklich eine
„seltsame Männerfantasie“, eine „Projektionsfläche der Männer“ in dem Lulu als
Frau sowieso schon preisgegeben wird. Frau Minichmayr wollte „weniger von
(erotischer) Erwartungshaltung geprägte Wege“ mit diesem Stück gehen. (nach und
auch alle Zitate hier aus dem Artikel von Barbara Petsch in der Presse vom
21.4.2011)
Und? Stimmt es denn nicht? Es stimmt. Das beweist doch der Anruf vom Burgtheater und womit man mich gelockt hat sowie meine Reaktion darauf.
(7.10.2018)
©Peter Alois Rumpf Oktober 2018
peteraloisrumpf@gmail.com
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