Freitag, 6. Juli 2018

1020 Unfrei erfunden


Ich bin bei der Wiener Gebietskrankenkasse zu einem freiwilligen Gespräch eingeladen, wo es um eine Unterstützung zum Zurückfinden in den Arbeitsprozeß nach einem langen Krankenstand geht. Lange habe ich gezögert, dann wollte ich mich doch kooperativ zeigen und habe einen Termin erbeten und bekommen. Am Telefon wurde mir gesagt, daß ich im Servicecenter keine Wartenummer ziehen brauche, sondern gleich sagen soll, ich habe ein Gespräch mit Frau Soundso. (*)

Ich komme fünf Minuten vorher zum Kundenservicecenter und stelle mich zum Schalter. Der Typ dort schnauzt mich an: „Sie müssen eine Nummer ziehen!“ Ich sage: „aber man hat mir gesagt ...“ „Eine Nummer ziehen! Ist das so schwer zu verstehen!?“

Gut. Ich ziehe eine Nummer und geh zu den Wartebänken. Im Vorbeigehen sage ich zum Schalterheini: „Falls die Frau Soundso fragt, ob der Herr Rumpf schon da ist, sagen Sie ihr, er wartet heraußen.“ „Ach so, Sie kommen zu einer Beratung! Dann rufe ich gleich die Frau Soundso an und sage ihr, daß Sie da sind.“ „Gut“, sage ich, „aber richten Sie ihr auch aus, daß Sie herauskommen muß, denn was ich ihr zu sagen habe, möchte ich vor Ihnen sagen!“

Ich setze mich hin und schon kommt meine Verabredung heraus - zwanzig Jahre jünger als ich, chic gekleidet – und begrüßt mich, stellt sich vor, entschuldigt sich für das Mißverständnis und bittet mich in ein Besprechungszimmer. Ich aber bekomme meinen großen Auftritt: „Moment, gnädige Frau, hören Sie mir zu! Dieses Gespräch ist angeblich freiwillig. Glauben Sie im Ernst, ich lasse mich freiwillig anschnauzen? Sie wollen mir helfen, zu einem Job zurückzufinden, in dem ich als Telefonierer in der Meinungsforschung dauernd damit rechnen muß, beschimpft zu werden, weswegen ich eigentlich gar nicht mehr hingehen will. Und jetzt soll ich mich auch noch von diesem Tschackl da (ich zeige auf ihn) blöd anreden lassen?! Und sagen Sie mir am Telefon nicht, daß ich keine Wartenummer ziehen muß, wenn Sie ihre Laufburschen nicht im Griff haben und die nicht wissen, was sie zu tun haben!“ Sie will mich beruhigen, aber ich lasse Sie nicht zu Wort kommen und schreie noch lauter: „Bevor Sie an mir herumdoktern und herumcoachen wollen, fangen Sie erst bei Ihren Mitarbeitern an und bringen diesen Rüpeln Manieren bei! Auf Nimmerwiedersehen und suchen Sie sich einen anderen Trottel für ihr Bearbeitungen!“

Toll, gell? DIESE GESCHICHTE IST JEDOCH FREI ERFUNDEN. Wahr ist nur der Anfang bis zum (*), alles andere war meine Phantasie. Sowohl das Angepöbelt-Werden, als auch meine glorreiche Entgegnung. Sowohl die Furcht vor Beschimpfung, als auch die phantastische Replik. Alles schon vorher ausgedacht.

In Wirklichkeit komme ich hin, am Schalter sitzt eine Dame, weder freundlich noch unfreundlich, ich brauche keine Nummer ziehen, niemand schnauzt mich an, die Dame ruft die Beraterin an, die kommt heraus, begrüßt mich, stellt sich vor und führt mich in ein Beratungszimmer. Wir beginnen ein freundliches, fruchtbares Gespräch, ich wurde nicht gedrängt, bekam volles Verständnis für meine Situation. Sie hat mir Tipps gegeben zu günstigen Therapien; hat nachgerechnet und gemeint, es könnte sein, daß ich zu wenig Krankengeld bekomme und mich aufgeklärt, wo ich da nachfragen kann und ich habe mich bei ihr aufrichtig bedankt, denn sie hat mir echt geholfen.

Projektion, Wirklichkeit und Entlastungsphantasien. Offensichtlich, daß mir immer noch die autoritäre Kindheit nachhängt. Oder besser: daß ich sie als einen Schwall von Ängsten und Befürchtungen vor mir herschiebe. So gesehen sind die Projektionen eigentlich nicht frei erfunden, sondern spiegeln zwanghaft meine Erfahrungen der Kindheit wieder.

Noch ein Beispiel:
Vor ein paar Tagen muß ich, weil mir die Antidepressiva ausgehen, zum Arzt. Jetzt ist es so, daß ich zurzeit wann immer es geht, mit dem MP3-Player unterwegs bin. Meine Lieblingsmusik in ordentlicher Lautstärke um mich bildet einen Schutzschirm und ich gehe weniger ängstlich und verloren in der Welt herum. (Mit den Stöpseln und der Kabelschnur an die Musikplazenta angeschlossen hole ich eine glückliche pränatale Kindheit nach.) Auch im Wartezimmer der Ordination habe ich die Stöpsel drinnen gelassen. (Ich hasse Ordinationen! Diese blöden, ständig belehrenden Plakate, Zettel, Gesundheitszeitschriften mit ihren dumm-pseudoglücklich lächelnden Senioren, alle so sauber und geschleckt, so tüchtig und gescheit, pfui! neuerdings die idiotischen Bildschirme mit den grässlichsten Werbespots – alles Erziehung, Belehrung der massa damnata da unten im Wartezimmer vorm Olymp der Götter in Weiß.)

Ein Arzt muß natürlich aus medizinischen und pädagogischen Gründen die ständige Ohrenstöpslerei auf 22 – mein MP3-Player sagt mir, 17 wäre die Grenze für Gehörschäden – ablehnen und ich rüste mich gegen die belehrende Attacke indem ich mir eine Verteidigungsrede ausdenke. Ungefähr so: „Ja, ich weiß, daß das meine Ohren schädigt. Ich habe diesen MP3-Player erst seit zwei Tagen und meine Ohren sind schon geschädigt.“ Dabei sage ich die Wahrheit und schwindle trotzdem: Diesen MP3-Player habe ich seit zwei Tagen, einen anderen schon ein paar Jahre. Allerdings habe ich erst seit ein paar Tagen begonnen, ständig Musik zu hören. Vorher habe ich den MP3-Player so alle paar Wochen einmal benützt.) Also: „Meine Ohren sind schon geschädigt, aber nicht von diesem Ding hier, sondern von meiner Arbeit als Telefonierer mit Headset. Das hat der HNO festgestellt. Aber dann hat er halt mit den Schultern gezuckt; das ist halt Berufskrankeit, da kann man halt nichts machen. Gell, gegen die „Wirtschaft“ - diesen elenden Drecksgötzen – traut sich keiner auftreten, da scheißen sie in die Hosen. Und wenn ich schon terrisch werden muß, dann lieber mit und von meiner geliebten Musik, als von den Beschimpfungen so mancher unserer Angerufenen und den überlauten Klingeltönen.“

Das Problem ist nämlich, daß beim Telephonieren die Klingeltöne, Ansagen etc. im Verhältnis zu den Sprechstimmen immer zu laut sind. Wenn ich aber die Lautstärke im Headset so heruntersenke, daß die Töne dem Ohr erträglich sind, höre ich nicht, wenn jemand abhebt und spricht. Ich kämpfe schon seit Jahren … also ehrlich, das ist eine komplette Übertreibung und verlogene Selbsterhöhung. Mein Lösungsvorschlag als Anregung für die Techniker wäre: man zieht generell eine Obergrenze der Lautstärke ein, die der/die einzelne Telefonierer/Telefoniererin selbst nach seinem/ ihrem Bedürfnis einstellen kann, so daß kein Ton über diese Grenze geht. Nachdem ich also meine Obergrenze nach meinen Hörbedürfnissen eingezogen habe, fahre ich mit der Lautstärke nach oben, wobei automatisch alles über der Obergrenze lautstärkenmäßig gekappt wird und somit die leisen Stimmen und die lauten Klingeltöne auf demselben Level sind.

„Aber das interessiert keinen Arsch, weil es dabei um Arbeitnehmerschutz geht und nicht um „die Wirtschaft“. Nein, lieber von meiner Lieblingsmusik terrisch werden. Doktern Sie nicht nur individuell herum!“

Übrigens: wenn ich in einer U-Bahnstation mit meinem MP3 auf Lautstärke 17 höre - angeblich die Grenze zur Gehörschädigung – dann höre ich von der Musik keinen Ton. Also muß der U-Bahnlärm weit über dieser Grenze liegen.

In Wirklichkeit hat niemand in der Ordination etwas gesagt, meine schöne Verteidigungsrede habe ich mir völlig umsonst ausgedacht. Und deswegen habe ich mir stundenlang Gedanken gemacht! Aber ich kann dabei viel von meinen Kindheitserfahrungen und Kindheitsängsten, die ich immer noch mitschleppe, sehen.

Leser und Leserinnen, die mich kennen, werden schon an den großartigen Verteidigungsreden gemerkt haben, daß das nur Phantasien sind, Angstphantasien und entlastende Erhöhungstagträume, denn würde ich tatsächlich angeschnauzt werden, würde ich zu zittern beginnen, rot anlaufen, mich schämen und klein beigeben. Auch in der Arbeit habe ich bei kräftigeren Attacken von Angerufenen immer so zwanzig Minuten gebraucht, bis ich mich beruhigt und nicht mehr gezittert habe und bis meine Stimme wieder eine gewisse Festigkeit erreicht hat. Es erklärt sich von selbst, daß ich in solchen zwanzig Minuten nur ganz selten ein Interview zustande gebracht habe.










(5.7.2018)













©Peter Alois Rumpf    Juli 2018     peteraloisrumpf@gmail.com

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