992 Wecker
Es hat einmal Zeiten gegeben, da brauchte ich keinen Wecker.
Wenn ich mir beim Einschlafen sagte: „aufwachen um sechs“, dann bin ich um
sechs Uhr aufgewacht. Immer genau zur angepeilten Uhrzeit. Das hat absolut
sicher funktioniert.
Irgendwann habe ich diese Sicherheit wieder verloren.
Interessanter ist die Frage, wie ich diese Sicherheit gewonnen habe,
schließlich bin ich in meinem Aufwachsen zu einem passiv-autoritären Charakter
zugerichtet worden, dessen größte Angst es war, der Autorität nicht zu genügen.
Und versäumte Termine gingen deswegen gar nicht. Bin ich wegen dieser Angst so
pünktlich aufgewacht?
Wenn ich mich an diese Zeit als junger Erwachsener
zurückerinnere, war es für mich jedoch eher ein Gefühl der Selbstsicherheit,
der Selbstmächtigkeit, also ein positives Gefühl; ich wußte, das kann ich.
Wichtig dafür ist vermutlich die Tatsache, daß ich damals einigermaßen
getrunken habe; wahrscheinlich hatte ich von da her den Mut, versäumte Termine
zu riskieren.
Damals war ich überhaupt gut drauf und locker unterwegs: so
bin ich einmal zu einer Prüfung in Hausschlapfen gekommen, weil das
Uniinstitut im gleichen Haus war wie mein Studentenzimmer. Oder bei einer anderen
Prüfung, bei der ich nicht viel konnte, aber der Professor wußte, daß ich nie
in dieser seiner Vorlesung war und somit merkte, daß ich bloß nach dem Skriptum
gelernt hatte und er deswegen äußerte, daß das Skriptum nicht gut sei, da habe ich
ihm geantwortet, daß sich das Skriptum sehr genau an seinen Vortrag halte – was
ich von anderen Vorlesung dieses Professors sehr wohl beurteilen konnte. Ja,
lustig war das Studentenleben! Übrigens hatte das mit dem Aufwachen auch
funktioniert, wenn ich am Abend vorher betrunken war – und das war ich so gut
wie jeden Tag.
Heute muß ich schon längst wieder mit Wecker arbeiten. Das
Selbstvertrauen ist weg. Ich verwende eh schon den sanfteren und melodiöseren
Weckton vom Handy, aber ich hasse es dennoch. Ich finde, es ist ein
Menschenrecht, im Normalfall einfach von selber aufzuwachen, besonders in der
Kindheit und am Lebensabend. Aus dem heilenden Schlaf gerissen war mir heute
gleich schlecht und die Ängste haben ihre Chance genützt, in die durch den
Wecker gerissene Lücke einzudringen.
Und so fängt auch mein Tag heute an: müde, weinerlich,
verzweifelt, mit einer inneren Tirade an Selbstbeschimpfungen, grantig nach
außen, verbittert, unversöhnlich, hoffnungslos, mit Phantasien von einem
„unheimlich starken Abgang“ (Harald Sommer).
Meistens kann ich über so einen Cocktail wie da oben lachen,
heute nicht. Nur ein müdes „ach!“ mit ein paar wegwerfenden Handbewegungen.
Vielleicht kann ich meinen Frust kanalisieren und abbauen,
indem ich ein Bild von mir zerstöre; ich muß sie heute sowieso alle abhängen.
Eines springt mir schon ins Auge. Jaaa, das mache ich! Darauf freue ich mich
schon!
Sehe ich da nicht vor meinem inneren Auge ein teuflisch
grinsendes und teuflisch ausschauendes Gesicht auftauchen? Keine Hörner, aber
etwas stark verzerrtes? Freut sich da wer über meine geplante Selbstzerstörung?
(21.6.2018)
©Peter Alois Rumpf Juni
2018 peteraloisrumpf@gmail.com
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