946 Im Lager
Im Lager entscheidet sich, welche Gedichte gut sind und
welche unbrauchbar, welche einem im Leben halten können und welche nicht (siehe
z.B. Herta Müller). Bei mir war es eigenartig: die guten, ernsthaften Gedichte
und Sätze haben nämlich nur bis zu einem gewissen Grad gehalten, dann war im
Lebenskampf meine Konzentration zu schwach und ich habe mich an die absurden
geklammert: „In Stunden der Trauer/ lieg ich auf Lauer/ und freue mich
diebisch/ ich weiß nicht worübisch“ oder „moos kau, das ganze Ergebnis einer
Moskaureise“ oder „Käme Herr Jesus und wäre er unser Gast, würde er segnen, was
er uns bescheret hätte“ (Alles Jandl) oder „Der Heilige Sebastian (stimmt
nicht, es war ein anderer) hat in die Gurken geschissen“ (ein tschechischer
oder slowakischer Bischof, als er von seiner Gefangenschaft im kommunistischem
Lager erzählt; gemeint war „geschossen“; er hat, als er das auf Deutsch erzählt
hat, die Formen verwechselt: schießen, schießte, geschiessen.) oder "Einst aß Orlov zu viel Erbsenbrei und starb" oder "Bibikov erstieg einen Berg, fiel in Gedanken und stürzte ab" (beides Daniil Charms) oder „Piff,
paff, puff … dudl, didl, dedl“ (?) (Apollinaire? Keine Ahnung. Im Lager gibt es
normalerweise weder Nachschlagewerke noch Internet. Weswegen auch alles bloß
aus dem Gedächtnis zitiert ist und ziemlich sicher ziemlich ungenau.)
Warum? Vielleicht deswegen weil ich innerlich und äußerlich
schon zu sehr kollaboriert hatte und mich von der Schuld in die Absurdität
retten wollte: alles ist absurd, also brauch ich nichts ernst nehmen, auch
meine Schuld nicht. Das ist fürs Überleben im Lager nicht ungefährlich, weil
dann auch der Tod genauso absurd und damit genauso wird, wie alles andere,
genauso gleichgültig. Und dann ist er eine genau so absurde Option wie alles
andere, auch wie das Leben.
Wer schreibt das eigentlich? Sicherlich nicht Peter Rumpf,
denn der war nie in einem Lager und – soweit ich ihn kenne - würde er es sich
nicht anmaßen, so etwas über das Lager zu schreiben. (Höchstens das in Klammern geschriebene; dieses Herumgetüpfel würde zu ihm passen.)
Nein, der Peter Rumpf ist es nicht, der das geschrieben hat,
denn er liegt aktuell angstbefallen im Bett und es ist ihm schlecht.
(11.5.2018)
©Peter Alois Rumpf Mai
2018 peteraloisrumpf@gmail.com
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