Freitag, 23. März 2018

901 „Gewalt macht stark“


Vieruhrsiebenundzwanzig. Meine surrenden Sirenen dröhnen geradezu; vor allem am linken Ohr spielt es sich ab. Dort läuft ein akustischer Film, ein richtiger Schinken mit allem Pi Pa Po.

Ich habe das Licht aufgedreht, im Zimmer ist alles still und starr; alles, was hängt, hängt starr; es geht kein Lüftchen, das etwas bewegt. Ich wundere mich auch, warum mir das komisch vorkommt, wenn sich im abgeschlossenen Zimmer nichts bewegt. Dennoch, diese Starre kommt mir abnormal vor.

Das linksseitige Akustikdrama bläst mir – akustisch nur – fast den Kopf weg.

Einer dieser tieferen, unwillkürlichen und stoßweisen Atemzüge, wie man es von weinenden Kindern kennt.

Ich liege gütig auf meinen drei Polstern, gütig schaue ich im Zimmer herum.

Meine Fußsohlen bewegen sich auf die Matratze gestützt ganz leicht auf und ab. Wer hat ihnen das angeordnet? Ich? Ich kann mich nicht erinnern.

Ich blicke unzentriert, mit verschwommenem Lesebrillenblick auf meine kindliche „Ikonostase“; immerhin, sie holt aus mir ein Lächeln hervor.

Die Starre jedoch hält sich immer noch im Raum auf. War das gestern noch nicht so? Wird sie auf mich übergreifen? Innerlich lache ich jetzt über eine kleine Episode bei der Ärztin gestern (ich habe sie angebettelt, auf jeden Fall das Herz zu untersuchen), dabei geht eine leichte Bewegung durch mich hindurch. Die Füße zappeln jetzt regelrecht, auf der Matratze aufliegend. Ich werde versuchen, weiterzuschlafen.

Es stinkt in meiner kleinen Kammer. Ich öffne das Fenster gerade zur Zeit des beginnenden Vogelgezwitschers. Ein kühle Macht kommt herein und dehnt sich aus. Ich bleibe wach und wachsam.

Mein linker Arm verkrampft sich beim Festhalten des Notizbuches. Ich werde wirklich wieder zu schlafen versuchen.


Neunuhrdreißig. In der Ordination. Ich setze mich im Wartezimmer unter den Bildschirm, damit ich nicht sehen muß, was da so läuft. An der Wand gegenüber diese depperten Propagandaplakate und Aufrufe, die man nicht lesen möchte („man“ weiß ich eigentlich nicht: ich. Die ich nicht lesen möchte), und die man trotzdem liest. Ich lese: „Gewalt macht stark“; dort gestanden ist aber:  „Gewalt macht krank“ - als Aufforderung an den Arzt, bei Verletzungen genauer hinzuschauen. Das hätte der Hausarzt meiner Kindheit auch aufhängen sollen, aber in seinem Behandlungszimmer, nicht so wie hier im Warteraum.






(23.3.2018)







©Peter Alois Rumpf    März 2018     peteraloisrumpf@gmail.com

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