671 Es regnet
Ich liege wach. Es ist dunkel und ich kann nicht sehen, wie
spät es ist. „Es ist noch Zeit, der Wecker hat noch nicht geläutet,“ denke ich
mir. Ich bleibe ruhig liegen, aber die Unruhe hat mich schon erfasst. Dann
kommt der Gedanke: „Und wenn ich den Wecker überhört habe?“ In dem Moment
findet eine Explosion von Panik in mir statt. In meinem ganzen Körper, vor
allem aber in der Körpermitte zittert es. Mir bleibt fast die Luft weg. Nur mit
innerer Kraftanstrengung kann ich verhindern, daß ich das Licht aufdrehe, um
auf die Uhr zu schauen. Ich sage mir: „Es ist nicht möglich, daß ich den Wecker
überhöre; das ist mir noch nie passiert – also habe ich noch Zeit.“ Ein wenig
kann ich mich beruhigen, aber es ist eine unruhige Ruhe, in der ich liege. Ein
wenig döse ich ein, dann wieder das Aufschrecken: „Wer weiß, vielleicht habe
ich doch den Wecker überhört! Oder vergessen, ihn richtig einzustellen! Oder er
hat einen Defekt! Vielleicht habe ich schon verschlafen und bin schon zu
spät?!“ Wieder diese Explosion von Panik, wieder überschwemmt mich blanke
Angst. Wieder versuche ich mich zu beruhigen. So geht es vier-, fünfmal hin und
her. Bis ich es nicht mehr aushalte und das Licht aufdrehe. Noch eine halbe
Stunde bis zum Aufstehen-Müssen. Ich drehe das Licht ab. Eine kurze Phase von
alarmierter Ruhe – wenn es soetwas gibt.
Sagen wir es so: mehr halte ich mich ruhig, als daß ich
wirklich ruhig bin. Nach zehn Minuten halte ich genau das nicht mehr aus und
drehe wieder die Lampe auf und beginne, das hier zu schreiben.
Es muß also der Gehorsam sein. Die panische Angst, einen
Befehl zu überhören. Ich selber habe nichts Substantielles dagegen zu setzen.
Ich bin dem voll ausgeliefert. Wie gesagt, mein ganzer Körper zittert. Dieser
elende Gehorsam! Der zerstörerischste Habitus - neben den Schuldgefühlen - den man sich vorstellen kann. (Die beiden
treten sowieso gemeinsam auf).
Diese Prägung muß sehr alt sein. Und es ist eine traurige
Bilanz, am Lebensabend noch nicht weitergekommen zu sein und immer noch Sklave
des Gehorsams zu sein und ohne innere Substanz, ohne innere Stabilität zu
leben. Die Ungeheuerlichkeit dieser Verstrickung und deren – im wahrsten Sinn des Wortes! - gewaltiges Ausmaß ist
mir erst durch das Schreiben und das meist damit einhergehende Hineinhorchen in
mich, also erst in letzter Zeit bewußt geworden - meine Lektüre hat auch eine
Rolle gespielt. Diese Erkenntnis ist richtig unangenehm und erschreckend
und tut weh. Ich hätte schon längst profunde Hilfe gebraucht. Jetzt kommt es
mir schon ziemlich spät vor, fast zu spät.
Und ich bin auch enttäuscht, daß in den vielen Therapien,
die ich gemacht habe – das Gefühl, daß mit mir etwas nicht in Ordnung ist, war
ja die ganze Zeit da – niemand diese Verstrickung gesehen und erkannt und
angesprochen hat und niemand mir geholfen hat, das Ganze wirklich grundsätzlich
und an seinen Wurzeln aufzuarbeiten. Die Not und das Leid der Stillen im Lande
– um mich wieder einmal ein wenig hinter einer Floskel zu verstecken – die
Verzweiflung der Schüchternen, der Braven wird oft und oft übersehen, auch bei
TherapeutInnen. (Vom brüllenden Geschimpfe und verächtlichen Hertreten des
Herrn Döbereiner ganz zu schweigen.)
Sicher, wir rücken ja selber nicht so leicht damit heraus;
sei es, um die TherapeutInnen zu schonen – halten sie es aus? - sei es, weil
wir selber es nicht wissen, wie tief die Deformierung sitzt und wie wenig wir
von uns selber kennen, sei es, weil wir glauben, nicht so viel Wind von uns
selber machen zu dürfen.
Ein Abgrund! Ein übles und Übelkeit verursachendes Gefühl,
so wenig von einem selber, seinem innersten gesunden Kern zu kennen, sich
selber so fremd zu sein. Unter den demütigen Bedingungen einer Besatzungsmacht
leben, mit dem schalen, ekligen Geschmack der Kollaboration im Mund.
Aber, das will ich festhalten, es war zur Zeit der letzten
Therapie, daß ich zu schreiben begonnen habe. Dafür sage ich danke!
(19.4.2017)
©Peter Alois
Rumpf April 2017 peteraloisrumpf@gmail.com
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