Mittwoch, 19. April 2017

671 Es regnet

Ich liege wach. Es ist dunkel und ich kann nicht sehen, wie spät es ist. „Es ist noch Zeit, der Wecker hat noch nicht geläutet,“ denke ich mir. Ich bleibe ruhig liegen, aber die Unruhe hat mich schon erfasst. Dann kommt der Gedanke: „Und wenn ich den Wecker überhört habe?“ In dem Moment findet eine Explosion von Panik in mir statt. In meinem ganzen Körper, vor allem aber in der Körpermitte zittert es. Mir bleibt fast die Luft weg. Nur mit innerer Kraftanstrengung kann ich verhindern, daß ich das Licht aufdrehe, um auf die Uhr zu schauen. Ich sage mir: „Es ist nicht möglich, daß ich den Wecker überhöre; das ist mir noch nie passiert – also habe ich noch Zeit.“ Ein wenig kann ich mich beruhigen, aber es ist eine unruhige Ruhe, in der ich liege. Ein wenig döse ich ein, dann wieder das Aufschrecken: „Wer weiß, vielleicht habe ich doch den Wecker überhört! Oder vergessen, ihn richtig einzustellen! Oder er hat einen Defekt! Vielleicht habe ich schon verschlafen und bin schon zu spät?!“ Wieder diese Explosion von Panik, wieder überschwemmt mich blanke Angst. Wieder versuche ich mich zu beruhigen. So geht es vier-, fünfmal hin und her. Bis ich es nicht mehr aushalte und das Licht aufdrehe. Noch eine halbe Stunde bis zum Aufstehen-Müssen. Ich drehe das Licht ab. Eine kurze Phase von alarmierter Ruhe – wenn es soetwas gibt.
Sagen wir es so: mehr halte ich mich ruhig, als daß ich wirklich ruhig bin. Nach zehn Minuten halte ich genau das nicht mehr aus und drehe wieder die Lampe auf und beginne, das hier zu schreiben.


Es muß also der Gehorsam sein. Die panische Angst, einen Befehl zu überhören. Ich selber habe nichts Substantielles dagegen zu setzen. Ich bin dem voll ausgeliefert. Wie gesagt, mein ganzer Körper zittert. Dieser elende Gehorsam! Der zerstörerischste Habitus - neben den Schuldgefühlen - den man sich vorstellen kann. (Die beiden treten sowieso gemeinsam auf).

Diese Prägung muß sehr alt sein. Und es ist eine traurige Bilanz, am Lebensabend noch nicht weitergekommen zu sein und immer noch Sklave des Gehorsams zu sein und ohne innere Substanz, ohne innere Stabilität zu leben. Die Ungeheuerlichkeit dieser Verstrickung und deren – im wahrsten Sinn des Wortes! - gewaltiges Ausmaß ist mir erst durch das Schreiben und das meist damit einhergehende Hineinhorchen in mich, also erst in letzter Zeit bewußt geworden - meine Lektüre hat auch eine Rolle gespielt. Diese Erkenntnis ist richtig unangenehm und erschreckend und tut weh. Ich hätte schon längst profunde Hilfe gebraucht. Jetzt kommt es mir schon ziemlich spät vor, fast zu spät.

Und ich bin auch enttäuscht, daß in den vielen Therapien, die ich gemacht habe – das Gefühl, daß mit mir etwas nicht in Ordnung ist, war ja die ganze Zeit da – niemand diese Verstrickung gesehen und erkannt und angesprochen hat und niemand mir geholfen hat, das Ganze wirklich grundsätzlich und an seinen Wurzeln aufzuarbeiten. Die Not und das Leid der Stillen im Lande – um mich wieder einmal ein wenig hinter einer Floskel zu verstecken – die Verzweiflung der Schüchternen, der Braven wird oft und oft übersehen, auch bei TherapeutInnen. (Vom brüllenden Geschimpfe und verächtlichen Hertreten des Herrn Döbereiner ganz zu schweigen.)
Sicher, wir rücken ja selber nicht so leicht damit heraus; sei es, um die TherapeutInnen zu schonen – halten sie es aus? - sei es, weil wir selber es nicht wissen, wie tief die Deformierung sitzt und wie wenig wir von uns selber kennen, sei es, weil wir glauben, nicht so viel Wind von uns selber machen zu dürfen.

Ein Abgrund! Ein übles und Übelkeit verursachendes Gefühl, so wenig von einem selber, seinem innersten gesunden Kern zu kennen, sich selber so fremd zu sein. Unter den demütigen Bedingungen einer Besatzungsmacht leben, mit dem schalen, ekligen Geschmack der Kollaboration im Mund.

Aber, das will ich festhalten, es war zur Zeit der letzten Therapie, daß ich zu schreiben begonnen habe. Dafür sage ich danke!










(19.4.2017)
















 ©Peter Alois Rumpf    April 2017     peteraloisrumpf@gmail.com

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