574 Der alte Volksschuldirektor
Der alte Volksschuldirektor! Uns Kindern hat er prophezeit,
daß wir das Jahr 2000 erleben werden, aber er selbst nicht mehr. Ich weiß
nicht, wann er gestorben ist.
Ich weiß, daß mir das damals unvorstellbar war, 46 Jahre alt
zu werden, oder besser gesagt, ich konnte mir nichts darunter vorstellen, 46
Jahre alt zu sein. Es war mir nicht möglich, irgendein Bild davon zu haben. Ich
weiß nicht, wie es den anderen in der Klasse gegangen ist, ob der Ewald zum
Beispiel ein Bild hatte, etwa: ich werde den Hof meines Vaters übernommen
haben, der regierende Bauer sein, verheiratet mit einer geliebten und liebenden
Frau, viele Kinder, viel Arbeit, viel Stolz. Wenn es so war, dann hat es sich –
soweit ich sehe – erfüllt.
Was mich betrifft, ich glaube, ich habe geahnt, daß mein
Leben bestenfalls am Rande des Scheiterns entlangschlittern wird. Obwohl,
gerade im Jahr 2000 hat es nicht schlecht ausgeschaut. Mein erstes Kind war
schon geboren, mein zweites wird in diesem Jahr gezeugt, die späte junge Ehe hat eine
ungewohnte, ungewöhnliche, manchmal schwindelerregende Dynamik in mein Leben
gebracht, ich war über meine Frau wieder krankenversichert und lebte wieder mit
Fließwasser, Bad, Heizung, war wieder am normalen Leben angeschlossen, ich habe
trotz Döbereiner wieder gezeichnet und gemalt und Ausstellungen gehabt und
verkauft. Ich hatte durch die Stiefkinder – oder wie Jesper Juul sagt:
Bonuskinder - sozusagen von einem Tag auf den anderen eine große Familie. Sehr
herausfordernd damals, ich war oft überfordert und bin viel geschwommen und
mußte mich erst zurecht finden, aber wir haben es mit sehr viel Improvisation
hingekriegt. Also kein schlechtes Jahr.
Ja, der alte Volksschuldirektor! Er wollte nicht, daß ich
aufs Gymnasium gehe, denn konservativ wie er war, waren Gymnasien nur für seine
Kinder und die Kinder Seinesgleichen reserviert. Der Zeichenunterricht der
jungen, damals „modernen“ Lehrerin Frau Bina hat ihm auch nicht gepasst. Wir haben in
der dritten einen offenen Streit der beiden miterlebt über die Art des
Zeichenunterrichts; sie hat tapfer ihren auf Förderung der Kreativität
angelegten Unterricht verteidigt, während er darauf bestanden hat, daß wir die
Köpfe der Erwachsenen im genauen Abzeichnen im Verhältnis zur Körpergröße
kleiner zeichnen müssen als die im Verhältnis zur kindlichen Körpergröße
größeren der Kinder. Er hat ihr dann für einige Zeit den Zeichenunterricht
weggenommen und selber unterrichtet, und tatsächlich, wir mußten „Kinder
stellen sich bei der Impfung an“ zeichnen, mit den Kindern, dem Arzt, den
manchmal begleitenden Müttern. Ja, der alte Volkschuldirektor hat uns oft
beschimpft und uns oft als Trotteln bezeichnet, und auch unsere gezeichneten
Köpfe haben ihm nicht gefallen und überhaupt war sein Unterricht schlecht; wir
haben bei ihm nicht viel gelernt, weil er sich gedacht hat, daß das für uns
Landtrotteln sowieso unnötig ist. Einmal war der Landesschulinspektor da und
hat uns geprüft und wir waren nicht gut; vermutlich hat den Volksschuldirektor
jemand angezeigt, denn er hat betont, daß er geprüft werde. Wir wußten
nicht, daß Leoben der Hauptbahnknotenpunkt der Steiermark ist, und nicht
Selzthal, wie wir lokalpatriotisch glaubten, nur einer – ich habe seinen Namen
vergessen – von ganz oben am Bleiberg, ganz weiter Schulweg, der hat es gewußt.
Vom Direktor hat er es nicht gelernt. Der Bub hat dann ein Plus eingetragen
bekommen, was bei ihm sonst eher nicht so üblich war. Das nur nebenbei, weil
das wieder so typisch ist, das ganze vorhandene Potential in den Schülern nicht
wahrzunehmen. Zu meiner Schande muß ich gestehen, daß ich das diesem Schüler
auch nicht zugetraut hatte, denn ich habe mich schon für einen besseren Schüler
gehalten (das ist halt auch so ein Kapitel!) – im Gegensatz zur Auffassung des
Direktors.
Der Streit zwischen dem Direktor und unserer Lehrerin hat mich damals sehr beschäftigt, es war für mich unvorstellbar, daß die vor uns streiten. Es ist übrigens diese Lehrerin, die Frau Bina, gewesen, die meiner Mutter – nachdem ihr der Volksschuldirektor die Gymnasiumspläne für mich ausgeredet hat – gesagt hat, „der Peter gehört unbedingt aufs Gymnasium!“ Danke, Frau Bina.
Der Streit zwischen dem Direktor und unserer Lehrerin hat mich damals sehr beschäftigt, es war für mich unvorstellbar, daß die vor uns streiten. Es ist übrigens diese Lehrerin, die Frau Bina, gewesen, die meiner Mutter – nachdem ihr der Volksschuldirektor die Gymnasiumspläne für mich ausgeredet hat – gesagt hat, „der Peter gehört unbedingt aufs Gymnasium!“ Danke, Frau Bina.
Der alte Volksschuldirektor. Bei den Sonntagsspaziergängen
konnte man ihn manchmal einen Kilometer vor seiner Frau hergehen sehen, richtig
davonlaufen, sodaß sie nicht schritthalten konnte. Dann wußten alle, es hat
wieder eine kleine Ehekrise gegeben.
Die Frau Volksschuldirektor – sie selber hat keinen Beruf
ausgeübt – war das, was man damals am Land eine furchtbare Tratschen genannt
hat. Nichts war vor ihr sicher; alles hat sie mitbekommen und weitergetragen.
Nur damals, als sich am Putterersee der deutsche Urlauber an
mich herangemacht hat und sich einfach zu mir auf die Decke gelegt hat, da hat
sie, in fünf Meter Abstand, nichts mitbekommen und ist meinen hilfesuchenden
Blicken ausgewichen. Ich war dreizehn und konnte mich nicht wehren; das Ganze
hat dann am Klo geendet, aber das habe ich schon alles erzählt („Mein ganz
persönlicher Größenwahn“ Schublade Nummer 89)
Keine Ahnung, warum ich heute nach dem Aufwachen an den
Volksschuldirektor denken mußte. Ich seufze tief; widersprüchliche Gefühle
ziehen durch meine Seele; viel Wehmut ist dabei, nicht unbedingt eine Sehnsucht
nach damals, aber eine nach einem anderen Damals vielleicht. Ein leichter Schmerz,
daß es auch anders hätte sein können. Trauer ist auch dabei. Ja, eigenartig
widersprüchliche Gefühle, denn irgendetwas Unverständliches zieht mich auch an.
(17.1.2017)
©Peter Alois Rumpf Jänner
2017 peteraloisrumpf@gmail.com
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