Dienstag, 17. Januar 2017

574 Der alte Volksschuldirektor

Der alte Volksschuldirektor! Uns Kindern hat er prophezeit, daß wir das Jahr 2000 erleben werden, aber er selbst nicht mehr. Ich weiß nicht, wann er gestorben ist.
Ich weiß, daß mir das damals unvorstellbar war, 46 Jahre alt zu werden, oder besser gesagt, ich konnte mir nichts darunter vorstellen, 46 Jahre alt zu sein. Es war mir nicht möglich, irgendein Bild davon zu haben. Ich weiß nicht, wie es den anderen in der Klasse gegangen ist, ob der Ewald zum Beispiel ein Bild hatte, etwa: ich werde den Hof meines Vaters übernommen haben, der regierende Bauer sein, verheiratet mit einer geliebten und liebenden Frau, viele Kinder, viel Arbeit, viel Stolz. Wenn es so war, dann hat es sich – soweit ich sehe – erfüllt.

Was mich betrifft, ich glaube, ich habe geahnt, daß mein Leben bestenfalls am Rande des Scheiterns entlangschlittern wird. Obwohl, gerade im Jahr 2000 hat es nicht schlecht ausgeschaut. Mein erstes Kind war schon geboren, mein zweites wird in diesem Jahr gezeugt, die späte junge Ehe hat eine ungewohnte, ungewöhnliche, manchmal schwindelerregende Dynamik in mein Leben gebracht, ich war über meine Frau wieder krankenversichert und lebte wieder mit Fließwasser, Bad, Heizung, war wieder am normalen Leben angeschlossen, ich habe trotz Döbereiner wieder gezeichnet und gemalt und Ausstellungen gehabt und verkauft. Ich hatte durch die Stiefkinder – oder wie Jesper Juul sagt: Bonuskinder - sozusagen von einem Tag auf den anderen eine große Familie. Sehr herausfordernd damals, ich war oft überfordert und bin viel geschwommen und mußte mich erst zurecht finden, aber wir haben es mit sehr viel Improvisation hingekriegt. Also kein schlechtes Jahr.

Ja, der alte Volksschuldirektor! Er wollte nicht, daß ich aufs Gymnasium gehe, denn konservativ wie er war, waren Gymnasien nur für seine Kinder und die Kinder Seinesgleichen reserviert. Der Zeichenunterricht der jungen, damals „modernen“ Lehrerin Frau Bina hat ihm auch nicht gepasst. Wir haben in der dritten einen offenen Streit der beiden miterlebt über die Art des Zeichenunterrichts; sie hat tapfer ihren auf Förderung der Kreativität angelegten Unterricht verteidigt, während er darauf bestanden hat, daß wir die Köpfe der Erwachsenen im genauen Abzeichnen im Verhältnis zur Körpergröße kleiner zeichnen müssen als die im Verhältnis zur kindlichen Körpergröße größeren der Kinder. Er hat ihr dann für einige Zeit den Zeichenunterricht weggenommen und selber unterrichtet, und tatsächlich, wir mußten „Kinder stellen sich bei der Impfung an“ zeichnen, mit den Kindern, dem Arzt, den manchmal begleitenden Müttern. Ja, der alte Volkschuldirektor hat uns oft beschimpft und uns oft als Trotteln bezeichnet, und auch unsere gezeichneten Köpfe haben ihm nicht gefallen und überhaupt war sein Unterricht schlecht; wir haben bei ihm nicht viel gelernt, weil er sich gedacht hat, daß das für uns Landtrotteln sowieso unnötig ist. Einmal war der Landesschulinspektor da und hat uns geprüft und wir waren nicht gut; vermutlich hat den Volksschuldirektor jemand angezeigt, denn er hat betont, daß er geprüft werde. Wir wußten nicht, daß Leoben der Hauptbahnknotenpunkt der Steiermark ist, und nicht Selzthal, wie wir lokalpatriotisch glaubten, nur einer – ich habe seinen Namen vergessen – von ganz oben am Bleiberg, ganz weiter Schulweg, der hat es gewußt. Vom Direktor hat er es nicht gelernt. Der Bub hat dann ein Plus eingetragen bekommen, was bei ihm sonst eher nicht so üblich war. Das nur nebenbei, weil das wieder so typisch ist, das ganze vorhandene Potential in den Schülern nicht wahrzunehmen. Zu meiner Schande muß ich gestehen, daß ich das diesem Schüler auch nicht zugetraut hatte, denn ich habe mich schon für einen besseren Schüler gehalten (das ist halt auch so ein Kapitel!) – im Gegensatz zur Auffassung des Direktors.
Der Streit zwischen dem Direktor und unserer Lehrerin hat mich damals sehr beschäftigt, es war für mich unvorstellbar, daß die vor uns streiten. Es ist übrigens diese Lehrerin, die Frau Bina, gewesen, die meiner Mutter – nachdem ihr der Volksschuldirektor die Gymnasiumspläne für mich ausgeredet hat – gesagt hat, „der Peter gehört unbedingt aufs Gymnasium!“ Danke, Frau Bina.

Der alte Volksschuldirektor. Bei den Sonntagsspaziergängen konnte man ihn manchmal einen Kilometer vor seiner Frau hergehen sehen, richtig davonlaufen, sodaß sie nicht schritthalten konnte. Dann wußten alle, es hat wieder eine kleine Ehekrise gegeben.
Die Frau Volksschuldirektor – sie selber hat keinen Beruf ausgeübt – war das, was man damals am Land eine furchtbare Tratschen genannt hat. Nichts war vor ihr sicher; alles hat sie mitbekommen und weitergetragen.
Nur damals, als sich am Putterersee der deutsche Urlauber an mich herangemacht hat und sich einfach zu mir auf die Decke gelegt hat, da hat sie, in fünf Meter Abstand, nichts mitbekommen und ist meinen hilfesuchenden Blicken ausgewichen. Ich war dreizehn und konnte mich nicht wehren; das Ganze hat dann am Klo geendet, aber das habe ich schon alles erzählt („Mein ganz persönlicher Größenwahn“ Schublade Nummer 89)

Keine Ahnung, warum ich heute nach dem Aufwachen an den Volksschuldirektor denken mußte. Ich seufze tief; widersprüchliche Gefühle ziehen durch meine Seele; viel Wehmut ist dabei, nicht unbedingt eine Sehnsucht nach damals, aber eine nach einem anderen Damals vielleicht. Ein leichter Schmerz, daß es auch anders hätte sein können. Trauer ist auch dabei. Ja, eigenartig widersprüchliche Gefühle, denn irgendetwas Unverständliches zieht mich auch an.





(17.1.2017)















©Peter Alois Rumpf    Jänner 2017     peteraloisrumpf@gmail.com

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