316 Kindheitsträume
Ich bin in einer Buwog-Siedlung aufgewachsen. In dem Haus
Nummer 88 gab es sechs Parteien. Die Bewohner stammten in der Reihenfolge der
Wohnungen von links unten nach rechts oben aus folgenden Bundesländern: Kärnten
– Kärnten – Steiermark – Tirol/Vorarlberg – Steiermark – und - ich glaube – Wien; bei Letzterem bin ich mir
eben nicht mehr ganz sicher. Das ist für diese Geschichte auch ganz
unerheblich. Das sind nur ein paar Verlegenheitspirouetten, weil mir das Thema
unangenehm ist.
In diesen Gebäuden, in den Fünfzigerjahren gebaut, gab es
natürlich auch Keller. Betonierter Fußboden, Tageslicht kam durch kleine
Kellerfenster, trocken, modern, nichts muffiges. Die einzelnen Parteien hatten
ihre eigenen Abteile, die durch vertikale Lattenverschläge abgetrennt waren.
Man konnte also hindurchsehen.
Die ersten Jahre, nachdem wir in diese Wohnung gezogen
waren, hatten wir noch keinen Kühlschrank, und so waren im Keller Lebensmittel
eingelagert; Eier in einer Salzlacke in großen Gläsern, Gemüse, vor allem
Kartoffel, Sauerkraut im Faß, verschlossen mit einem von einem ordentlichen
Stein beschwerten Holzdeckel, Rexgläser mit verschiedenen eingekochten
Lebensmittel, Marmeladengläser und so weiter. Da es keine Zentralheizung gab,
waren auch Holz und Kohlen im Keller gelagert und einen Hackstock mit Hacke gab
es auch. Und Werkzeug.
Immer wieder wurde uns Kindern angeschafft, dieses und jenes
für die Eltern aus dem Keller zu holen. Ich hatte im Keller immer Angst. Vor
allem beim Kohlenholen im Winter, denn da war es schon früh finster und das
elektrische Licht im Keller aus diesen befremdlichen Lampen war mir auch nicht
geheuer, es warf so eigenartige Schatten und es gab nur einen einzigen Schalter
am Eingang. Die Kohlenschaufel machte auf dem Betonboden ein lautes, schrilles,
unangenehmes Geräusch; genauso die Kohlenstücke, wenn sie in den metallenen
Kohlenkübel krachten. Dieser Lärm hallte von den betonierten Wänden zurück und
ich hatte Angst, daß ich irgendwelche Schritte von irgendwelchen feindseligen
Kräften, Menschen, Wesen dabei überhöre. Die Stille danach war oft noch
schrecklicher. Um die Ecke, ist da was? Dreht mir wer das Licht ab, dann finde
ich nicht mehr hinaus. Und in den verwinkelten Gängen, wer weiß!? Lauert da
wer? Manchmal konnte ich meine Panik kaum im Zaum halten; aber Angst galt bei
meinen Eltern nicht als Ausrede, schon gar nicht bei mir, als dem Ältesten und
dem Sohn.
Ich hatte als Kind viele Albträume, aus denen ich öfters
schreiend aufwachte. Es gab verschiedene Horrorszenarien, manche wiederholten
sich ständig. Zum Beispiel Züge, die aus den Geleisen sprangen und mich
verfolgten, meistens, wenn ich mit meinem Vater am Bahnhof stand. Oft brachte
ich mich in Sicherheit, indem ich eine große Stiege hinauflief, in der Annahme,
da können Lokomotiven nicht nach. Oben war ich dann erleichtert, fühlte mich
gerettet und konnte durchatmen. Die Lokomotive war inzwischen unten an der
Stiege angelangt und ich wurde schon unsicher. Und tatsächlich, sie nahm schon
die erste Stufe, dann die zweite … Mein Vater stand daneben und half mir nicht.
Ich konnte vor Angst nichts sagen. Er wirkte abwesend und erstarrt, sagte
nichts, tat nichts, schaute nicht her, sein Blick ging irgendwo hin, als wolle
er meine Not nicht sehen, oder als könne er sie nicht sehen, weil sein Blick
von etwas anderem gefangen war.
Oder vom Wassermann in einem größeren Bach, der auch durch
eine Höhle floß. Der Wassermann – vom Aussehen eines gewöhnlichen Mannes – zog
die Leute, die die Uferstraße entlanggingen, im Bereich der Höhle ins Wasser,
an dieser Stelle kaum knietief. Das geschah ganz ruhig, ohne Geschrei, die
Leute zappelten bloß lautlos. Ich schwamm draußen vor der Höhle im Fluß, wo er
breit und tief war, fast wie ein See, und als der Wassermann sich mir näherte,
habe ich mich, um mich zu retten, ihm unterworfen und angeboten, ihm bei seiner
Arbeit zu helfen. Während er in der Höhle die Leute in das Wasser zog, habe ich
deren Koffer, die sie für den Kampf mit dem Wassermann abgestellt hatten,
genommen und in den Bach gestellt oder geworfen. Eigenartigerweise trugen alle,
oder fast alle Leute, die diese Uferstraße benutzten, Koffer mit sich. Aber
auch die Schwimmer im tiefen Bereich vor der Höhle zog der Wassermann hinunter. Ich selber
war ein guter Schwimmer und wunderte mich, wie unsicher und schlecht manche
Leute schwammen. An und für sich fühlte ich mich im Wasser wohl.
Als eine meiner Schwestern im Fluß schwamm, wurde es
brenzlig. Ich hatte vorm Wassermann horrende Angst, wenn ich mich auch als sein
Gehilfe halbwegs sicher fühlte, aber man kann ja nie wissen. Ich gab mich jetzt
locker und selbstverständlich – obwohl ich vor Angst schlotterte – und sagte
betont lässig zum Wassermann: „Das ist meine Schwester, können wir die nicht
verschonen? Weißt eh...!“ Er gab stumm sein Okay und meine Schwester wurde
nicht in die Tiefe gezogen.
Einige Albträume spielten auch im oben beschriebenen Keller.
So kann ich mich erinnern – ich muß etwa acht, neun gewesen sein, denn ich war
schon Ministrant, aber noch in der Volksschule – daß ich von einer
Überschwemmung, vielleicht von einer Sintflut im Keller träumte. Die Personen,
die außer mir noch im Keller waren, wohnten nicht im Haus, sie kamen aus den
umliegenden Dörfern, zum Teil waren sie Arbeitskolleginnen und Kollegen meines
Vaters; ich betrachtete sie irgendwie als katholisch und der Kirche auf
ländliche Weise nahestehend. Die Bilder in der Kirche, in der ich ministrierte,
und die ich in den ruhigeren Phasen des Ministrantendienstes immer wieder
gedankenverloren betrachtete, müssen diesen Traum beeinflußt haben, denn die
Menschen, die da im Wasser, das bis zur halben Raumhöhe reichte, standen und
schwammen, waren genauso halbnackt wie einige Gestalten auf den barocken Bildern,
und ihre Leiber von einem im Vergleich zur wirklichen Hautfarbe sehr hellen,
aber trotzdem düsteren Weiß, und Körperhaltung und Glieder verdreht.
Auch hier war mir bewußt, ein guter Schwimmer zu sein, sodaß
mir das halbhohe Wasser keine Angst machte, obwohl es ein Albtraum war, denn es
schien so, als würde das Wasser langsam steigen und hinaus konnten wir nicht.
Dennoch betrachtete ich die leidenden, halbnackten Menschen da im Wasser aus
einer gewissen inneren Distanz. Ich fragte mich, warum leiden die so? Noch kann
man ja schwimmen! Ihr Leiden schien mir eher freiwillig zu sein, auch bei den
Gefesselten unter ihnen hatte ich das Gefühl, sie haben sich da selber und zu
leicht hineinmanövriert, so, als wollten sie leiden oder glaubten, es zu müssen.
Ich selber war noch nicht so drauf, ich schaute mir die Szene nicht ohne Lust an, vor
allem eine jüngere, bäuerliche Frau, die mit ihren Händen am Rücken irgendwie
an die Wand gefesselt war, und der im Wasser das Gewand am Leib klebte und ihre
weiblichen Formen, vor allem ihre prallen Brüste sehr deutlich durchschimmern
ließ, und der dann durch das Auf und Ab
der Wellen das Kleid immer mehr herunterrutschte und ihren Busen freigab; von
ihr konnte ich den Blick kaum abwenden. Andere konnten nicht schwimmen und
versuchten in Panik, von den Wellen nicht umgestoßen zu werden. Ich sah mich
bei diesem Wasserstand noch nicht in Gefahr zu ertrinken.
Ungefähr im gleichen Alter – ich war ziemlich sicher noch in
der Volksschule – gehe ich im Traum wieder in den Keller. Im Traum ist es ein
heller Tag, auch im Keller ist es licht und gleich im Eingangsbereich sehe ich:
in unserem Kellerabteil sitzt meine Mutter splitternackt auf dem Holzstock, mit
dem Rücken zu mir, die Beine gespreizt und alle Buben und Burschen der Siedlung
stellen sich bei ihr an und sie holt sich einen nach dem andern her und vögelt
mit ihnen allen. Zuerst erstarre ich vor Entsetzen, fassungslos starre ich hin,
wie sie einen nach dem andern in die Arme nimmt und sie ihr Werk vollbringen.
Dann erfasst mich eine gigantische Welle von Eifersucht; mir stocken die Tränen
in den Augen, aber immer noch stehe ich da wie eine Salzsäule und starre hin.
Einer nach dem anderen kommt dran. Als alle durch sind, dreht sie ihren
Kopf zu mir um und sagt: „Na, dann
kommst halt auch her!“ Schon stehe ich vor ihr und stecke mein kleines Pimperl
in ihre Vagina. Aber ihre Vagina ist riesig und mein Pimperl ist klein und
hängt verloren und schlaff da drinnen herum. Und ich bin immer noch geschockt
und denke, das ist nichts, ich bin nichts, nein, ich kann das gar nicht, ich
bin viel zu klein.
Ich frage mich langsam, ob meine Schreiberei nicht schon
etwas zwanghaftes bekommt. Als ich heute (13.3.) auf diesen Traum gestoßen bin
– vergessen habe ich ihn nie – habe ich den Gedanken, ihn aufzuschreiben,
sofort zurückgewiesen: das will ich nicht öffentlich erzählen. Dann habe ich
mir gedacht, ich schreibe ihn nur für mich auf, eventuell fürs Rekapitulieren.
Ein Teil von mir war gleich alarmiert, weil ich noch jeden Text, den ich nur
für mich und zur eigenen Klärung schreiben wollte, dann doch veröffentlicht
habe. Ich kann dann nicht mehr aufhören. Zuerst schreibe ich es ins Notizbuch,
dann in den Computer, und dann stelle ich es auf und in meine Schublade; das
läuft schon ziemlich automatisch ab.
Aber das jetzt ist mir zu unangenehm, zu peinlich. Und es
geht mir viel zu weit. Das ist zu exhibitionistisch, alles muß ich nicht
preisgeben. Ich glaube, das darf ich einfach nicht. Und doch … ein anderer Teil
will es unbedingt loswerden. Was kümmern mich spießbürgerliche Normen und
Lebenslügen? Vielleicht trägt dieser Text dazu bei, daß wir mehr über uns und
unsere psychischen Mechanismen und ihre Genese verstehen? Außerdem, bis jetzt
hat mir das Erzählen meiner unangenehmen und peinlichen Erlebnisse, genau der,
derer ich mich schäme, immer große Erleichterung verschafft.
Aber wichtig sind auch folgende Ergänzungen:
Über Fritz Perls, dem Mitbegründer der Gestalttherapie habe
ich gehört, daß er sagt, daß alles, was im Traum vorkommt, Teile oder Teilaspekte
der eigenen Seele sind. Auf Albträume bezogen: „Die Person oder das Tier, die
den Traum beherrschen, sind immer unerwünschte Teile des eigenen Selbst.“ Das
ist sicher ein wichtiger und sinnvoller Ansatz, Träume zu verstehen. Aber nicht
der einzige.
Oder C.G. Jung und der Archetyp der großen Mutter, wie er in
vielen, wenn nicht allen Kulturen auftritt.
Zu ihr reisen bei vielen Völkern die Schamanen. Jung beschreibt aber
auch die neurotischen Folgen, wenn das Kind den im kollektiven Unbewußten beheimateten
Archetyp auf seine Mutter projiziert und ihn nicht von ihr ablösen kann.
Bei Carlos Castaneda erklären die Zauberer, daß wir in
unseren normalen Träumen regen Besuch von Boten anorganischer Lebewesen haben,
Lebewesen mit Energie und Bewußtheit, die im Universum existieren, in vom
Alltagsbewußtsein ausgeblendeten Dimensionen dieser und anderer Welten. Unser
Alltagsbewußtsein - im Schlaf zurückgeschraubt - versucht dennoch, diese fremden
Energien, die nicht zu unserer Alltagswelt gehören und mit der wir im Traum
interagieren, in vertraute Gegenstände oder Gestalten zu kleiden, was mehr oder
weniger gut gelingt. Diejenigen Scouts der anorganischen Lebewesen mit der aus
Sicht des Menschen fremdartigsten Energie tarnen sich jedoch gerne als
nahestehende Personen, oft als Eltern, am häufigsten als Mutter des Träumenden.
Das Schuldgefühl kommt dann aus dem Kontakt mit dieser fremden Energie, der für
das Alltagsbewußtsein mit schwerem Tabu belegt ist.
Und die freudianischen Deutungen des Traumes? Ödipus und so?
Hat das nichts zu besagen? Doch. Denn wenn unser Bewußtsein in den Träumen
versucht, die fremden Energien als etwas vertrautes zu verkleiden, so greift es
auf die Gestalten, Konstellationen, Rollen und Dramaturgie unseres Seelenlebens
zurück und sagt damit etwas über unsere Lebenssituation, unser Lebensdrama, den
Stand in der Welt und in der Familie, wie sie der Träumende erlebt, und über
den Stand der seelischen Entwicklung etcetera aus. Und weil es für das normale
Bewußtsein beim Kontakt mit fremder Energie um etwas sehr schuldbeladenes geht,
muß es bei der Verkleidung des Fremden auf sehr schuldbeladene Elemente der
seelischen Dramaturgie des Träumenden zurückgreifen.
(Fertiggestellt am 15/16.5.2016)
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