Donnerstag, 3. März 2016

308 Mein erster Rausch

In meiner Kindheit war ich eindeutig nicht der Sohn, den sich meine Eltern gewünscht hatten. Ich hätte frisch, frech, fröhlich, frei sein sollen, sportlich, war aber schwermütig, verschüchtert und gehemmt, traurig, ängstlich und unselbständig, unsportlich und noch dazu auf kindliche Weise religiös. Das spürt man als Kind, daß man seine Eltern enttäuscht und ich habe es auch oft im wörtlichen Sinne zu spüren bekommen.

Die Enttäuschung über mich gilt ausdrücklich für beide: für den Vater und für die Mutter. Wenn ich das richtig sehe, hat mein Vater diesbezüglich bald resigniert und mich als Versager einfach abgeschrieben gehabt und mich der Mutter überlassen – dabei sicherlich in sehr rustikalen Männlichkeitsvorstellungen verfangen – während meine Mutter immer wieder ihre Retterprojektionen an mir anzubringen versuchte, um dann über mein Versagen immer wieder enttäuscht zu sein. Auch sie hat schließlich resigniert und gesagt, „aus dem wird nie ein richtiger Mann“; ihre Männlichkeitsvorstellungen waren denen meines Vater ziemlich ähnlich – ihrer beiden Aufwachsen in der Nazizeit passt da auch gut dazu. Da jedoch frau mit solchen unmännlichen Typen oft gut reden kann, hat sie mich zu ihrem Vertrauten gemacht und mir ständig ihre Probleme, Sorgen und Seelenmüll anvertraut und oft erklärt: „Mit dem Peter kann ich so gut reden!“ - im Gegensatz zu ihrem angetrauten Mann, meinen Vater. Das waren natürlich meistens Monologe, die sich über mich ergossen haben und die ich brav erduldet habe.

Das ist freilich eine ungute Mischung und meine Position in diesem Familiengeflecht war eine eigenartige Mischung aus Prügelknabe und Haustyrann. Ich hatte herausgefunden, daß ich mich mit externen Autoritäten im Hintergrund (Schule, Kirche) in gewisser Weise meinen Eltern gegenüber unantastbar machen kann – diesen Autoritäten gegenüber waren meine Eltern trotz innerer Ablehnung wie im Fall der Kirche nach außen hin meist unterwürfig, in oft verbissener Wut. Zumindest eine Zeit lang unantastbar, bis sie diese Wut nicht mehr zurückhalten konnten und ich dann als Repräsentant dieser verhassten Autoritäten Schläge bezogen habe – nie, weil ich etwas schlimmes angestellt habe.
Anzumerken ist noch, daß auch die Unterwerfung unter die staatlichen Obrigkeiten wie die Schule von großer, meist verborgener Wut begleitet ist, denn diese Obrigkeiten hatten jahrhundertelang ihre Untertanen hochmütig und gewalttätig behandelt, ohne jeden Respekt, lediglich als Objekte obrigkeitlicher Maßnahmen ohne Selbstbestimmung, und – am Beispiel Schule – sich geweigert, das Potential dieser Kinder als Bereicherung wahrzunehmen, sondern in militärischem Geist auf sie eingedroschen. Das wurde dann oft in den Familien weiter gespielt. Da sind in den Seelen der Menschen viele Verletzungen zurückgeblieben, die von Generation zu Generation unerlöst weitergegeben wurden.

Mein Vater zum Beispiel hatte als Arbeiterkind „nur“ die Volksschule besucht, obwohl er für naturwissenschaftliche Fächer sehr begabt war. Seine Kenntnis der Pflanzenwelt hat manchen akademischen Biologen beeindruckt, wenn nicht beschämt, und in seinen jungen Jahren hat er an seiner Arbeitsstelle, als angelernte Hilfskraft für ein paar Doktoranden selbständig deren Untersuchungen zu Ende geführt; auf diesem Weg wurde sogar ein Insekt nach ihm benannt.


Diese lange Vorgeschichte soll dieses Spannungsfeld erklären, in dem ich aufgewachsen bin, als Gymnasiast einerseits Hoffnungsträger des sozialen Aufstiegs, aber gleichzeitig ein Verräter, der dabei ist, sich auf die Seite der arroganten, volksverachtenden Oberschicht zu schlagen. Erst recht als frommer Katholik. Da ist dann dieser Impuls meiner Eltern und in ihnen alle diese verachteten, schul- und militärverprügelten Generationen aus den niederen Ständen, die potentiellen Aufsteiger anzuhimmeln und gleichzeitig zu hassen, ja, gerade an ihnen die Wut über die da oben auszulassen, weil man sich bei den wirklichen Autoritäten nicht traut.

Gleichzeitig wurde ich von den Mitgliedern der „Oberschicht“ - und aus meiner Perspektive damals waren das schon Lehrer zum Beispiel – nicht, oder nur vereinzelt wahrgenommen, und auch die sagten mir: „du gehörst nicht zu uns. Manchmal dulden wir dich gnädig.“ Ausnahme war für mich in meinem Umfeld die katholische Kirche; sie hätte mich initiiert und unter ihre Fittiche genommen, mir dabei beim Aufstieg (oder beim Ausstieg aus meiner Herkunft) geholfen, wenn ich mich voll auf sie einlasse, wozu ich als Kind bereit war. Ich war ein braver und verlässlicher Ministrant, der den Glauben ernst genommen hat; und später, als Jugendlicher noch öfters Lektor im Gottesdienst. Viele Leute aus Irdning und Umgebung haben mich in diesen Rollen gesehen und gekannt; es war ja noch eine Zeit, wo das Kirchengehen – unabhängig von der inneren Einstellung, als Brauchtum etwa – zumindest zu den Festtagen üblich war.

Mein Haustyrannaspekt hat sich zum Beispiel gezeigt, als ich – weil der Direktor in der Volksschule verkündet hat, man solle auch im Winter bei zumindest ein wenig geöffnetem Fenster schlafen – das tatsächlich zu Hause durchsetzte. In unserem Kinderzimmer, das ich mit meinen Schwestern teilte, blieb auch im Winter in der Nacht das Fenster einen Spalt offen, gegen die Bedenken der Mutter, die noch gegen zu starke Zugluft eine Decke im unteren Drittel des Fensters vorgehängt hat. Das hatte ich mit dem Schuldirektor im Rücken bei meinen Eltern durchgesetzt - meine Schwestern hatten sowieso nichts zu reden – und wurde jahrelang beibehalten.

Mit vierzehn, fünfzehn hatte ich mich im Gymnasium über gemeinsames Lernen mit einem Mitschüler angefreundet, der aus einem echten Dorf stammte, gut in der dörflichen Welt verankert war, selbstbewußt, lebenserfahren, ein richtiger gesunder Lausbub (wie man damals gesagt hätte), genau so, wie sich meine Eltern ihren Sohn gewünscht hätten. Meine Eltern waren von ihm begeistert und ich, ich habe ihn bewundert, er wußte, wo es lang geht, während ich gehemmt und weltfremd war. Nur beim Musikgeschmack war ich – Musikbox! - anders unterwegs und bin auch dazu gestanden.
Viele, aber nicht alle seine Streiche habe ich gleich den Eltern erzählt, um mich ein wenig in seinem Licht zu sonnen, und wie gesagt, meine Eltern waren beide begeistert. Bei unseren Treffen am Samstag nach der Schule hat er mir auch ein paar „Sexheftl“ gezeigt - mehr so Witzblätter mit ein paar Fotos halbnackter Frauen, weit weg von dem, was heute so unter Pornographie kursiert – und hat sie mir geborgt, fast ein wenig aufgedrängt, denn obwohl ich die Photos gerne anschaute, habe ich die Texte und Karikaturen eher als ungut empfunden. Wie es dazu kam, weiß ich nicht mehr, jedenfalls hat sie mein Vater entdeckt und selber gerne gelesen, sodaß ich sie letztlich nur mehr für ihn mitnahm.

Ich selber konnte meinem Schulfreund bei weitem nicht das Wasser reichen, aber war glücklich, bei ihm im Dorf zu Besuch sein zu dürfen und trotz meiner vielen Defizite geduldet zu sein. Außerdem machte ich auch meine Eltern ein wenig glücklich und sie erhofften sich vom Franz, daß er mich  in Richtung Männlichkeit beeinflußt.

Mit ihm bin ich mit fünfzehn Jahren am ersten Mai auf dem Irdninger Kirtag ins Bierzelt gegangen. Ein Freund von ihm aus seinem Dorf war auch dabei, den ich nicht näher kannte, und so sind wir drei losgezogen, ich zumindest voller dubioser, dumpfer Erwartungen und voller Spannungen. Es war klar, daß wir trinken werden. Die zwei anderen wußten sich viel besser einzuschätzen als ich und so war ich schon in kürzester Zeit stockbetrunken. Ich habe auch nicht viel vertragen und bin herumgetorkelt und habe geschien: „ich brauch eine fickrige Frau!“

Das gilt auf einem Kirtag nicht als weiter schlimm, würde ich annehmen, aber bei mir, vorm Hintergrund meines sonst verschlossenen, schüchternen Wesens und meiner gelegentlichen Auftritte als Lektor in der Kirche hat es doch einiges Aufsehen erregt und wurde anscheinend Ortsgespräch. Zumindest ist mir nachher aufgefallen, daß sehr viele Leute davon wußten. Meine Eltern glaube ich nicht.

Als ich so betrunken war, daß ich nicht mehr stehen konnte, schnappten mich meine zwei Begleiter, nahmen mich in ihre Mitte und brachten mich nach Hause. Das war ein Weg von normalerweise höchsten fünf Minuten, den sie mich ständig stützen mußten und wo ich noch wie von Ferne registrierte, daß es leicht geschneit hat und auf der Wiese, die wir überquerten, eine sehr dünne, nasse Schneedecke lag. Ich konnte die Wohnungstür nicht aufsperren, sie halfen mir, und gleich stürzte ich mich ins Kinderschlafzimmer, stellte fest, daß das Fenster entgegen meiner Anordnung geschlossen war und begann laut zu schimpfen und zu krakeelen. Meine Eltern waren gleich wach, meine Schwestern sowieso, und mein Vater ging noch zu den beiden Freunden hinaus - Franz blieb stehen, der andere wollte reflexartig davonlaufen – und mein Vater bedankte sich bei ihnen, daß sie mich heimgebracht hatten.
Beide waren begeistert, was für klasse Eltern ich habe und Franz hat mir später gesagt, daß er nicht verstehen kann, wieso ich solche Probleme mit meinen Eltern habe.

Mein erster Rausch hat meinen Eltern sehr gefallen. Endlich, endlich benimmt sich ihr verklemmter Sohn wie ein richtiger Bursch. Oder zumindest entwickelt er sich ein wenig in die richtige Richtung. Der Franz tut ihm sichtlich gut. Von ihm kann er lernen, ein richtiger Mann zu werden.

Am nächsten Tag bin ich schwerst verkatert aufgewacht, voller Scham und Schuldgefühl, habe mein Versagen und meine Unzulänglichkeit stärker gespürt als sonst. Schließlich bin ich ja auch als „richtiger Bursch“ gescheitert, weil ich viel zu wenig Alkohol vertragen und viel zu schnell betrunken war. Mein Herumgeschrei nach einer „fickrigen Frau“ - möglicherweise habe ich auch „fickrige Oide“ gerufen, hat mich natürlich keinem Mädchen näher gebracht.

Aus Schuldgefühl habe ich dann das Geschirr abgewaschen – was bei uns nicht üblich war – weswegen meine Mutter gelacht hat und gemeint, das wäre nicht nötig. Trotz ihrer Begeisterung kamen auch Ermahnungen hinterher.

Eine Sache möchte ich noch klären: Es gibt das Schema, in unserem Unterbewußtsein sei das eigentliche Leben – nämlich die Triebe – und was da bei mir hervorgebrochen war, wäre dann das eigentliche Leben.
Das ist falsch. Sicher, es war schon das ungelebte Leben, das sich da gemeldet hat, aber das mit der „fickrigen Oiden“ ist etwas angelerntes, hat mehr mit den Erwartungen meiner Eltern, meines Umfeldes, meiner „Kultur“ zu tun und verstellt mein eigentliches Wesen mehr, als es es zum Vorschein bringt. Hätte ich wirklich eine „fickrige Oide“ gefunden, wäre ich heillos überfordert gewesen und garantiert vor Angst und Unsicherheit impotent. Nein, in meinem Innersten hat es, wenn schon, dann die Sehnsucht nach einer zarten Begegnung gegeben, die sich Zeit lassen kann und die allmählich wachsen darf, so, daß die Seele noch mitkommt, wo ich meine sensiblen Anteile leben lassen kann und nicht zuschütten muß.
Nein, das, was da hochgekommen ist, war zu neunzig Prozent Mist aus der Müllhalde des Menschengeschlechts, der die seichteren Bereiche des Unterbewußten – noch ganz nahe an den Ufern der Insel des Bewußtseins -  schon seit Generationen verseucht, während in den wirklichen Tiefen ganz, ganz andere Schätze verborgen sind und darauf harren, endlich gehoben zu werden und unser Leben und Dasein zu bereichern. Freud hat wirklich nicht sehr tief getaucht.










©Peter Alois Rumpf    März 2016                            peteraloisrumpf@gmail.com

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