Montag, 29. Februar 2016

306 Ost und West

Ich schaue ungewöhnlicherweise gegen Osten, auf die Straßen hinunter. Viele Autotüren werden aufgemacht und zugeknallt, wie ein Flashmob, von allen heimlich abgesprochen, eine konzertierte Aktion, um viel Wind zu erzeugen, wenn nicht überhaupt ein Shitstorm, um die Stille zu vertreiben. Aber es gelingt nicht, der Regen dämpft es und dieser schöne, leicht schwermütige Regenoptimismus bleibt.
Die drei neuen Bäume da unten, erst voriges Jahr gepflanzt, werden erstmals ihre Blätter an diesem Standort austreiben; sie wissen schon, wo die Sonne geht und werden sich danach richten. Auch ich weiß, wo der Osten ist und blicke in diese Richtung.
Viel Rot von Autos und den Deckeln der Papiercontainer, die schon zum Ausleeren bereit stehen. Unscheinbarer, aber sehr schön ist das Rostrotbraun der Kanaldeckel, auf die ich runterschaue.
Jetzt schiebt die Tagesmutter vier Kinder Richtung Park, sie lassen sich vom Wetter nicht abhalten.
Der Regen prasselt sanft aufs Fensterblech; die Menschen unten gehen konzentriert zwischen den Regentropfen hindurch und werden doch erwischt. Viele husten und haben Zigaretten in der Hand; manche, auch ohne Rauch, schreiten ganz stolz, fest und fast feierlich, den Regen ignorierend.
Immer wieder kurvende Autos – es bleibt ihnen da auch nichts anderes über –, die Aufregungslärm erzeugen, der sogleich wieder untergeht, ins Stadtgeräuschemeer versinkt.
Hundegebell, das die Wut auf der anderen Seite der Leine ausspricht, ich will mehr Revier und mehr Raum, aber nur kurz, dann ist es wieder vorbei und der zivilisierte Alltag regiert bis zum nächsten Event.
Jetzt bei den Bäumen ein scheißender Hund, seine Chefin ist so ins Betrachten ihrer Fingernägel vertieft, daß sie aufs Sackerl vergißt. Nicht nur ich bin am Morgen sehr langsam. Hoffentlich überleben die drei aufgerichteten Bäume diese Konzentration an Fäkalstoffen und Nägelmeditation.

Und im Westen? Nichts Neues, nur eine junge Amsel sitzt im Kirschbaum und plustert ihr Gefieder im Regen. Der kleine gartengeschmückte Hof. Die Bäume ragen nass in den Regen hinauf und sind still. Die Dächer glänzen zukunftsfroh vom Wasser. Die Überwachungskamera schaut unbeachtet vor sich hin, bis zu mir herauf sieht sie – glaube ich – nicht; ich weiß sowieso nicht, ob sie echt ist oder eine Attrappe.
Ein Mann, vom Tempo her zwischen Müdigkeit und Aufbruch, geht durch den Hof und schaut zu mir herauf; den Blick von mir hat er gespürt, nicht den der Kamera.

Oh, wie ich diese Regenvormittage liebe, so still; und wie es in den Räumen eher dunkel ist und trotzdem hell genug fürs Schreiben. Die Regentropfen hängen in den Zweigen und an den Dachlawinenstangen; ein jeder ist ein Tropfen Zukunft, Leben, Fruchtbarkeit, in dieser Form nun bloß glitzernde Gegenwärtigkeit.

Mein Spiegelbild trägt andere Augen. (Das ist ein schreiberischer Trick; mein Gesicht hat sich beim Üben von Tensegrity im Glas des linken Bildes an der Wand gespiegelt, ein intensiv und geheimnisvoll blickendes Selbstporträt meiner älteren Tochter.)

Die Kinder singen unten, vor allem einer improvisiert voll Inbrunst über Autos/Selbsts und Motorsägen, um dann zum Thema blau überzugehen und schmettert begeistert sein archaisches Lied.
Wann habe ich zuletzt so frei gesungen? Wenn ich allen bin, will ich die seltene Stille nicht stören; wenn andere da sind, habe ich oft Scheu. Oder ich habe überhaupt darauf vergessen.









©Peter Alois Rumpf  Februar 2016    peteraloisrumpf@gmail.com

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