306 Ost und West
Ich schaue ungewöhnlicherweise gegen Osten, auf die Straßen
hinunter. Viele Autotüren werden aufgemacht und zugeknallt, wie ein Flashmob,
von allen heimlich abgesprochen, eine konzertierte Aktion, um viel Wind zu
erzeugen, wenn nicht überhaupt ein Shitstorm, um die Stille zu vertreiben. Aber
es gelingt nicht, der Regen dämpft es und dieser schöne, leicht schwermütige
Regenoptimismus bleibt.
Die drei neuen Bäume da unten, erst voriges Jahr gepflanzt,
werden erstmals ihre Blätter an diesem Standort austreiben; sie wissen schon,
wo die Sonne geht und werden sich danach richten. Auch ich weiß, wo der Osten
ist und blicke in diese Richtung.
Viel Rot von Autos und den Deckeln der Papiercontainer, die
schon zum Ausleeren bereit stehen. Unscheinbarer, aber sehr schön ist das
Rostrotbraun der Kanaldeckel, auf die ich runterschaue.
Jetzt schiebt die Tagesmutter vier Kinder Richtung Park, sie
lassen sich vom Wetter nicht abhalten.
Der Regen prasselt sanft aufs Fensterblech; die Menschen
unten gehen konzentriert zwischen den Regentropfen hindurch und werden doch
erwischt. Viele husten und haben Zigaretten in der Hand; manche, auch ohne
Rauch, schreiten ganz stolz, fest und fast feierlich, den Regen ignorierend.
Immer wieder kurvende Autos – es bleibt ihnen da auch nichts
anderes über –, die Aufregungslärm erzeugen, der sogleich wieder untergeht, ins
Stadtgeräuschemeer versinkt.
Hundegebell, das die Wut auf der anderen Seite der Leine
ausspricht, ich will mehr Revier und mehr Raum, aber nur kurz, dann ist es
wieder vorbei und der zivilisierte Alltag regiert bis zum nächsten Event.
Jetzt bei den Bäumen ein scheißender Hund, seine Chefin ist
so ins Betrachten ihrer Fingernägel vertieft, daß sie aufs Sackerl vergißt.
Nicht nur ich bin am Morgen sehr langsam. Hoffentlich überleben die drei
aufgerichteten Bäume diese Konzentration an Fäkalstoffen und Nägelmeditation.
Und im Westen? Nichts Neues, nur eine junge Amsel sitzt im
Kirschbaum und plustert ihr Gefieder im Regen. Der kleine gartengeschmückte
Hof. Die Bäume ragen nass in den Regen hinauf und sind still. Die Dächer
glänzen zukunftsfroh vom Wasser. Die Überwachungskamera schaut unbeachtet vor
sich hin, bis zu mir herauf sieht sie – glaube ich – nicht; ich weiß sowieso
nicht, ob sie echt ist oder eine Attrappe.
Ein Mann, vom Tempo her zwischen Müdigkeit und Aufbruch,
geht durch den Hof und schaut zu mir herauf; den Blick von mir hat er gespürt,
nicht den der Kamera.
Oh, wie ich diese Regenvormittage liebe, so still; und wie
es in den Räumen eher dunkel ist und trotzdem hell genug fürs Schreiben. Die
Regentropfen hängen in den Zweigen und an den Dachlawinenstangen; ein jeder ist
ein Tropfen Zukunft, Leben, Fruchtbarkeit, in dieser Form nun bloß glitzernde
Gegenwärtigkeit.
Mein Spiegelbild trägt andere Augen. (Das ist ein
schreiberischer Trick; mein Gesicht hat sich beim Üben von Tensegrity im Glas
des linken Bildes an der Wand gespiegelt, ein intensiv und geheimnisvoll
blickendes Selbstporträt meiner älteren Tochter.)
Die Kinder singen unten, vor allem einer improvisiert voll
Inbrunst über Autos/Selbsts und Motorsägen, um dann zum Thema blau überzugehen
und schmettert begeistert sein archaisches Lied.
Wann habe ich zuletzt so frei gesungen? Wenn ich allen bin,
will ich die seltene Stille nicht stören; wenn andere da sind, habe ich oft
Scheu. Oder ich habe überhaupt darauf vergessen.
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