Freitag, 11. März 2016

315 Wundertäterfragment 12

Der Wundertäter wacht auf. Er sieht: ich liege mit meiner Frau im Ehebett. Es herrscht Morgengrauen und das Schlafzimmer ist klein. Sehr klein. Ebenerdig. Das große Fenster geht auf einen kleinen Platz hinaus. Sehr kleiner Platz. Das Bett steht direkt am Fenster. Das Fenster ist so nieder, daß der Wundertäter im Bett liegend die vorbeigehenden Personen ab Körpermitte aufwärts sieht. Der Wundertäter und seine Frau liegen mit den Füßen zum Fenster im Bett. Das Fenster steht offen. Die frische Morgenluft strömt herein. Alles verspricht ein schöner Frühsommertag zu werden. Der kleine Platz vorm Fenster ist von grauen, modern wirkenden Häusern gesäumt. Erste Hälfte des vorigen Jahrhunderts. Die Gebäude: Quader und Würfel. Schlicht, schnörkellos, wohlproportioniert, funktionell, unaufgeregt. An der linken Seite des Platzes – vom Schlafzimmerfenster aus gesehen – bildet das höchste Gebäude ab dem ersten Stock eine große Auskragung, sodaß rund ein Viertel des Platzes überdacht ist. Ein winziges, kioskartiges, aber ungenutztes Gebäude stützt diese Auskragung zur Platzmitte hin ab.

Für diese Zeit in der Morgendämmerung sind eigentlich viele Leute auf dem Platz. Eine Gruppe Jugendlicher, Burschen und Mädchen, die miteinander scherzen und plaudern. Ruhig. Freundlich. Friedlich. Und einige Männer. Der Wundertäter nimmt sie – noch immer vom Bett aus – in Augenschein. Diese Männer wirken eigenartig in Richtung Unauffälligkeit verkleidet. Aber sehr ungeschickt. Der Wundertäter merkt gleich, die haben die Jugendlichen im Visier. Kripo? Die Jugendlichen sind eine Gruppe netter, befreundeter Schüler. So um die sechzehn, siebzehn. Der Wundertäter erkennt, die verkleidete Polizei unterstellt ihnen Drogendelikte. Der Wundertäter beobachtet jetzt aufmerksam einen Polizisten. Der steht halb verdeckt hinter dem geschlossenen Kiosk. Scheint der Einsatzleiter zu sein. Der beobachtet mit verächtlichem Gesicht die jungen Leute. Er hat rötlich gefärbte Haare, der Ansatz weiß, eine Visage wie Donald Trump und steckt in einer idiotischen Verkleidung. Das Sakko ist braun kariert, viel zu klein, seine Ärmel viel zu kurz, um den Bauch viel zu eng. Hemd und Hose in völlig unpassenden Farben – welche habe ich vergessen – die Hose vielleicht dunkel. Kopf, Hände und Bauch des Einsatzleiters quellen geradezu aus seiner Kleidung hervor. Auffälliger kann man nicht unauffällig sein wollen. Nichts passt zusammen, alles entweder zu groß oder zu klein. Der Wundertäter versteht, der Mann hat nichts verstanden.

Der Gesichtsausdruck des Verkleideten sagt: Wir erwischen euch schon noch! Seine Wut hält er gerade noch zurück. Seine dumme Bösartigkeit kann die Unschuld der Jugendlichen nicht wahrnehmen. Sein Hass muss an das Böse im Menschen glauben. Wenn es nicht anders geht, werde ich ihnen eine Falle stellen, denkt sich der Polizist, sie müssen schuldig sein, so, wie sie unschuldig tun. Das kann nur hinterfotzige Tarnung sein. Ich werde ihnen Drogen unterschieben, wenn wir nichts finden. Mich legen sie nicht rein! Da! Burschen und Mädchen gemischt, sie reden harmlos und lachen untereinander, tun so harmlos und friedlich, keine anzüglichen Bemerkungen, keine zweideutigen Anspielungen – das ist nicht normal! Das gibt es nicht! Die spielen mir was vor! Mich legen die nicht rein!

Seine Wut über diese hinterhältige Tarnung verzerrt ihm sein Gesicht. An einer deutenden Geste mit dem Kopf und einem schnellen Wink mit der linken Hand erkennt der Wundertäter, jetzt geht es los. Soeben hat der Einsatzleiter seine Leute losgeschickt. Da rutscht der Wundertäter im Bett so weit nach vor, daß seine Beine aus dem Fenster ragen. Mit einem Zangengriff der Beine versucht er einen vorbeieilenden Büttel zu schnappen und festzuhalten. Der erstaunte Polizist entwindet sich schnell. Aber die Tarnung ist aufgeflogen. Anscheinend sollte der Zugriff unbedingt verdeckt ablaufen, denn die Aktion ist jetzt abgeblasen. Die verkleideten Polizisten ziehen sich schnell zurück. Auch der Wundertäter bleibt unbehelligt.

Und die Jugendlichen? Was ist mit den Jugendlichen? Die sind einfach weitergegangen. Haben vermutlich gar nichts bemerkt. Nicht, was die Kripo gegen sie im Schilde geführt hat. Nicht, daß der Wundertäter mit seiner Beinarbeit den Einsatz gestoppt hat.















©Peter Alois Rumpf    März 2016                 peteraloisrumpf@gmail.com


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