315 Wundertäterfragment 12
Der Wundertäter wacht auf. Er sieht: ich liege mit meiner
Frau im Ehebett. Es herrscht Morgengrauen und das Schlafzimmer ist klein. Sehr klein. Ebenerdig. Das große Fenster geht auf einen kleinen Platz hinaus. Sehr kleiner
Platz. Das Bett steht direkt am Fenster. Das Fenster ist so nieder, daß der
Wundertäter im Bett liegend die vorbeigehenden Personen ab Körpermitte aufwärts
sieht. Der Wundertäter und seine Frau liegen mit den Füßen zum Fenster im
Bett. Das Fenster steht offen. Die frische Morgenluft strömt herein. Alles
verspricht ein schöner Frühsommertag zu werden. Der kleine Platz vorm Fenster
ist von grauen, modern wirkenden Häusern gesäumt. Erste Hälfte des vorigen
Jahrhunderts. Die Gebäude: Quader und Würfel. Schlicht, schnörkellos,
wohlproportioniert, funktionell, unaufgeregt. An der linken Seite des Platzes –
vom Schlafzimmerfenster aus gesehen – bildet das höchste Gebäude ab dem ersten
Stock eine große Auskragung, sodaß rund ein Viertel des Platzes überdacht ist.
Ein winziges, kioskartiges, aber ungenutztes Gebäude stützt diese Auskragung
zur Platzmitte hin ab.
Für diese Zeit in der Morgendämmerung sind eigentlich viele
Leute auf dem Platz. Eine Gruppe Jugendlicher, Burschen und Mädchen, die
miteinander scherzen und plaudern. Ruhig. Freundlich. Friedlich. Und einige
Männer. Der Wundertäter nimmt sie – noch immer vom Bett aus – in Augenschein.
Diese Männer wirken eigenartig in Richtung Unauffälligkeit verkleidet. Aber
sehr ungeschickt. Der Wundertäter merkt gleich, die haben die Jugendlichen im
Visier. Kripo? Die Jugendlichen sind eine Gruppe netter, befreundeter Schüler.
So um die sechzehn, siebzehn. Der Wundertäter erkennt, die verkleidete Polizei
unterstellt ihnen Drogendelikte. Der Wundertäter beobachtet jetzt aufmerksam
einen Polizisten. Der steht halb verdeckt hinter dem geschlossenen Kiosk.
Scheint der Einsatzleiter zu sein. Der beobachtet mit verächtlichem Gesicht die
jungen Leute. Er hat rötlich gefärbte Haare, der Ansatz weiß, eine Visage wie
Donald Trump und steckt in einer idiotischen Verkleidung. Das Sakko ist braun
kariert, viel zu klein, seine Ärmel viel zu kurz, um den Bauch viel zu eng. Hemd
und Hose in völlig unpassenden Farben – welche habe ich vergessen – die Hose
vielleicht dunkel. Kopf, Hände und Bauch des Einsatzleiters quellen geradezu
aus seiner Kleidung hervor. Auffälliger kann man nicht unauffällig sein wollen.
Nichts passt zusammen, alles entweder zu groß oder zu klein. Der Wundertäter versteht,
der Mann hat nichts verstanden.
Der Gesichtsausdruck des Verkleideten sagt: Wir erwischen
euch schon noch! Seine Wut hält er gerade noch zurück. Seine dumme Bösartigkeit
kann die Unschuld der Jugendlichen nicht wahrnehmen. Sein Hass muss an das Böse
im Menschen glauben. Wenn es nicht anders geht, werde ich ihnen eine Falle
stellen, denkt sich der Polizist, sie müssen schuldig sein, so, wie sie
unschuldig tun. Das kann nur hinterfotzige Tarnung sein. Ich werde ihnen Drogen
unterschieben, wenn wir nichts finden. Mich legen sie nicht rein! Da! Burschen
und Mädchen gemischt, sie reden harmlos und lachen untereinander, tun so
harmlos und friedlich, keine anzüglichen Bemerkungen, keine zweideutigen
Anspielungen – das ist nicht normal! Das gibt es nicht! Die spielen mir was
vor! Mich legen die nicht rein!
Seine Wut über diese hinterhältige Tarnung verzerrt ihm sein
Gesicht. An einer deutenden Geste mit dem Kopf und einem schnellen Wink mit der
linken Hand erkennt der Wundertäter, jetzt geht es los. Soeben hat der
Einsatzleiter seine Leute losgeschickt. Da rutscht der Wundertäter im Bett so
weit nach vor, daß seine Beine aus dem Fenster ragen. Mit einem Zangengriff der
Beine versucht er einen vorbeieilenden Büttel zu schnappen und festzuhalten.
Der erstaunte Polizist entwindet sich schnell. Aber die Tarnung ist
aufgeflogen. Anscheinend sollte der Zugriff unbedingt verdeckt ablaufen, denn
die Aktion ist jetzt abgeblasen. Die verkleideten Polizisten ziehen sich
schnell zurück. Auch der Wundertäter bleibt unbehelligt.
Und die Jugendlichen? Was ist mit den Jugendlichen? Die sind
einfach weitergegangen. Haben vermutlich gar nichts bemerkt. Nicht, was die
Kripo gegen sie im Schilde geführt hat. Nicht, daß der Wundertäter mit seiner
Beinarbeit den Einsatz gestoppt hat.
©Peter
Alois Rumpf März
2016
peteraloisrumpf@gmail.com
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