Mittwoch, 12. April 2023

3162 Ein halber Tag im Leben des Pjotr Emericowič

 



7:17 a.m. Selten stört mich die Surrerei in meinen Ohren, aber jetzt nervt mich dieser Aufregung erzeugende Alarm am frühen Morgen. Es ist doch alles gut! Ich habe keinen Termin, kann den Tag frei gestalten, kann aufstehen, kann weiterschlafen; ich habe die freie Wahl. Ich aber entscheide mich nicht, ich lehne hockend in meinem Pölstern und habe keinen Plan. Auch keinen Impuls. Keine Idee, nichts, was mich animiert oder anzieht. Gut: Frühstück in einem Café … geht bei meinem Kontostand nicht. Kleine Wanderung? Regen angesagt. Museumsbesuch? Hm! Momentan keine Lust; weder auf die Albertinas, noch auf die Belvederes, wo ich Jahreskarten besitze (Ich habe „besitzen“ geschrieben statt „haben“, weil mir das edler vorgekommen ist, aber „besitzen“ tu ich die eigentlich nicht, denn ich trage die Jahreskarten in der Brusttasche des jeweilig aktuellen Sakkos und nicht hinten in der Arschtasche der jeweils aktuellen Hose). Ich muß meinen Kontostand checken; das werde ich heute tun. Meine Frau unten in der Küche niest zweimal laut und kräftig. Ihr Arbeitstag hat längst begonnen. Jetzt gerät meine Psyche ins Wanken und there is no mercy. Ein Schmerz beginnt in meiner rechten Seite an der Hüfte zu pochen, unangenehme Erinnerungen überschwemmen meinen Geist und mein Gemüt, ich beginne mit den Zähnen zu knirschen. Hilft alles nichts. Verlegen blicke ich auf die toten Bilder an meinen Wänden. Ich warte noch, bis unsere kleine Küche frei ist, dann stehe ich auf.

8:15 a.m. Ich habe es nicht ausgehalten und meinen Kontostand überprüft: ich bin tatsächlich schon – geringfügig – im Minus. Kaffeehausbesuche sind für den Rest des Monats gestrichen. Ich kann draußen in der Stadt oder rundum in der Landschaft herumrennen. Ich kann die genannten Museen besuchen. Ich kann in die Bücherei fahren (Jahreskarte Wiener Verkehrsbetriebe). Sonst nichts. Immerhin! Dann wollte ich mich im Internet ablenken, aber das ist gründlich danebengegangen. Nicht, weil die Nachrichten und Meldungen so schrecklich gewesen wären – ich glaube, die schrecklichen habe ich gar nicht herangelassen – sondern weil sie so uninteressant, so beliebig, so gleichgültig, so belanglos, so unwürdig, so unerleuchtet, so fremd waren. Ich habe nun Magenschmerzen vor Angst und Panik: ich weiß gar nichts von der Welt, ich kenne mich nicht aus und verstehe nichts von dem, was da und wie das abläuft. Gut, ich werde auch diesen Anfall überstehen, aber Leben ist das nicht.

13:27 So bin ich: am Vormittag streiche ich alle Kaffeehausbesuche und Einkäufe für den Rest des Monats und um Mittag sitze ich im Diglas in der touristischen Innenstadt bei heißer Schokolade, nachdem ich vorher zwei Rollen Kohlenstücke für den Weihrauchkessel in einem Geschäft am Stephansplatz erstanden habe – alles vom Geld, das ich noch in der Geldbörse hatte – für den Weihrauchkessel, den ich so gut wie nie gebrauche. Das ist wahrlich mein Verhältnis zur Welt und ihren Anforderungen: wenn ich nichts mehr habe, dann gebe ich das letzte aus (um Obdachlosigkeit und Verhungern geht es dabei heute nicht mehr – schließlich bin ich verheiratet und meine Frau wird mich voraussichtlich weiterhin durchfüttern und mir Obdach gewähren, was für ein männlich angelegtes Wesen, das noch in den Fünfzigerjahren zum Scheitern hin sozialisiert wurde, ein seelisches Desaster und eine Selbstwertkatastrophe ist. Ich muß mich so beherrschen, nicht so oder so auszuzucken und 23 Stunden am Tag hart arbeiten, das Ganze auszutarieren, in Relation zu stellen und von den Windmühlenkämpfen etwas Abstand zu gewinnen) und tätige dann möglichst absurde Handlungen und Einkäufe. So etwa in dem Sinn „ich pfeife auf den Gurkenkönig“ – wer immer das in meinem Leben ist (die Nöstlinger möge mir verzeihen). Spucken könnte ich auch auf den Döb ...äh! … Gurkenkönig. Bytheway: heute habe ich eineinhalb Stunden das Telephon läuten lassen, um das Reparatur-und-Service-Zentrum zu erreichen, das mich per SMS um einen Rückruf gebeten hat, ob wir unsere Kaffeemaschine (eigentlich gehört sie meiner Frau) zu den vorgeschlagenen Kosten reparieren lassen wollen. Die Reparatur wäre trotz Reparaturbonus teurer als eine Neuanschaffung. Die Begutachtung des Schadens hat 60.- € gekostet. Meine Schuld! Ich war es, der diesen Versuch vorgeschlagen hat. Meine dumme Idee. Dann eben keine Kaffeemaschine.

Erst recht trinke ich die viel zu süße Schokolade aus (ich vermute, dass das Getränk irgendsoein Aufgußscheiß ist, aber hic et nunc nie einen bitteren Kakao gesehen hat). Dann trinke ich das beigestellte Wasser aus – weil wenn ich schon überteuert zahle, trinke ich alles weg. Außer man hätte mich beleidigt, dann würde ich zahlen und gehen und das Zeugs zurücklassen.

13:57 Nun sitze ich im selten besuchten Stadtpark (warum selten? Keine Ahnung. Steht nicht auf meiner Liste) und habe am Herweg - um dem Ganzen noch eins draufzusetzen – fünf – schon preisgünstige – Bücher antiquarisch gekauft und dafür meinen letzten Zwanzigeuroschein hergegeben (Mario Vargas Llosa, Seher Çakir, Mircea Lǎcǎtuş (warum kann das Scheißgerät die eingefügten Sonderzeichen nicht einfach übernehmen?), Ernst Petzoldt und Nathan Englander – und glaubt nicht, dass ich weiß, was ich da gekauft habe!)

Viel kann ich mit dem Sonnenschein und dem Grün gar nicht anfangen; ich fühle mich bloß verpflichtet, das schön zu finden (man will ja nicht depressiv sein und verzweifeln, dass überall das Leben aufblüht, nur man selber nicht), wie ich es wirklich jenseits der Verpflichtung fände, weiß ich nicht. Heute stören mich auch die Bettler; ich will meine Ruhe haben und unbehelligt ins gleichgültige Grün starren, ob es mich erleichtert oder nicht. Ich bin schon ganz unruhig und will heim in meine Kammer um mich dort zu verkriechen. Ich fürchte nur, in den Trubel der Abholzeit der Tageskinder zu geraten und somit zu stören. Ich breche trotzdem auf.




(12.4.2023)

©Peter Alois Rumpf April 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

0 Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Abonnieren Kommentare zum Post [Atom]

<< Startseite