Montag, 25. Juli 2022

2814 Ich muß weinen

 

Am Heimweg vom Gänsehäufel so knapp nach sechs - das Angelusläuten hatte ich gehört – gerate ich beim Kaiserwasser auf der Rückseite des Goethehofes zufällig mitten in den Beginn eines Impulstanzes (Musik: „Femenine“ (1974) von Julius Eastman, gespielt von Studio Dan;  Choreographie, Konzept: Eva Maria Schaller). Monotone Clustermusik – ich immer aus Unsicherheit mit leichter Bereitschaft zu leichtem Spott – mein innerer Spötter ist nicht ohne – aber als die erste Tänzerin auf die Wiese tritt und mit ihren mir sehr verständlichen Bewegungen beginnt, wo ich aber befürchte, dass sich dieses verletzliche Wesen hier wehrlos preisgibt, muß ich weinen. Die Musik wird immer schöner und bestimmter und geht mir ans Herz. Immer mehr Tänzerinnen und Tänzer. Jetzt schreiten sie erhobenen Hauptes und verletzlich vor der Meute im Kreis und wieder muß ich weinen. Ich unterstelle, will es aber deutlich gefühlt haben, dass auch sie Angst haben. Die Musik – schon mit ordentlichen Lautsprechern – aber so zart hier im Freien und unter dem gleichgültigen Himmel und nach allen Seiten ungeschützt (Angriffe können auch aus dem Goethehof kommen). Aber die Tänzerinnen sind nicht allein. Es sind deren einige. Die Tänzerinnen rufen, ja schreien jetzt auch. Ich muß weinen. Der Lebenstanz kann auch gelingen. Mit dem richtigen Orchester, mit der richtigen Musik, mit den richtigen Weggefährten. Sie bewegen und verkrümmen sich und richten sich auf, drehen sich, schreiten feierlich und königlich in ihrer anmutigen existentiellen Armut, laufen, hüpfen, werden abwechselnd hochgehoben. Mir tut mein Kreuz vom rückhaltlosen Sitzen auf der Wiese weh. Sie laufen und heben sich. Jetzt kommt bei mir auch der Rotz. Die Musik vermischt sich mit Kindergeschrei. Acht Musikerinnen sind es. Ich muß weinen; mich schüttelt es richtig her. Hier, wo ich immer mit leichter Angst vor Rowdies durchgehe und froh bin, wenn ich diesen Abschnitt hinter mich gebracht habe. Die Musik beginnt zu verklingen, wird immer schmäler. Die Tänzerinnen gehen; eine läuft noch, dann sind alle von der Wiese verschwunden. Eine bleibt allein, hebt die Hände über den Kopf, geht ab. Der Vibrationist – fast der Letzte, der noch Töne erzeugt – schlägt nur mehr alle drei Schläge mit den Schlegeln auf das Instrument, die restlichen schlägt er leer in die Luft. Bald wird auch er ausgeklungen sein. Ich muß weinen.

Und dann der Applaus. Nimmt ein wenig den Schmerz von der Seele, ohne die Schönheit zu zerstören.

 

(25.7.2022)

©Peter Alois Rumpf  Juli 2022   peteraloisrumpf@gmail.com

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