2814 Ich muß weinen
Am Heimweg vom Gänsehäufel so knapp nach sechs - das
Angelusläuten hatte ich gehört – gerate ich beim Kaiserwasser auf der Rückseite
des Goethehofes zufällig mitten in den Beginn eines Impulstanzes (Musik:
„Femenine“ (1974) von Julius Eastman, gespielt von Studio Dan; Choreographie, Konzept: Eva Maria Schaller).
Monotone Clustermusik – ich immer aus Unsicherheit mit leichter Bereitschaft zu
leichtem Spott – mein innerer Spötter ist nicht ohne – aber als die erste
Tänzerin auf die Wiese tritt und mit ihren mir sehr verständlichen Bewegungen
beginnt, wo ich aber befürchte, dass sich dieses verletzliche Wesen hier
wehrlos preisgibt, muß ich weinen. Die Musik wird immer schöner und bestimmter
und geht mir ans Herz. Immer mehr Tänzerinnen und Tänzer. Jetzt schreiten sie
erhobenen Hauptes und verletzlich vor der Meute im Kreis und wieder muß ich
weinen. Ich unterstelle, will es aber deutlich gefühlt haben, dass auch sie
Angst haben. Die Musik – schon mit ordentlichen Lautsprechern – aber so zart
hier im Freien und unter dem gleichgültigen Himmel und nach allen Seiten
ungeschützt (Angriffe können auch aus dem Goethehof kommen). Aber die
Tänzerinnen sind nicht allein. Es sind deren einige. Die Tänzerinnen rufen, ja
schreien jetzt auch. Ich muß weinen. Der Lebenstanz kann auch gelingen. Mit dem
richtigen Orchester, mit der richtigen Musik, mit den richtigen Weggefährten.
Sie bewegen und verkrümmen sich und richten sich auf, drehen sich, schreiten
feierlich und königlich in ihrer anmutigen existentiellen Armut, laufen,
hüpfen, werden abwechselnd hochgehoben. Mir tut mein Kreuz vom rückhaltlosen
Sitzen auf der Wiese weh. Sie laufen und heben sich. Jetzt kommt bei mir auch der
Rotz. Die Musik vermischt sich mit Kindergeschrei. Acht Musikerinnen sind es.
Ich muß weinen; mich schüttelt es richtig her. Hier, wo ich immer mit leichter
Angst vor Rowdies durchgehe und froh bin, wenn ich diesen Abschnitt hinter mich
gebracht habe. Die Musik beginnt zu verklingen, wird immer schmäler. Die
Tänzerinnen gehen; eine läuft noch, dann sind alle von der Wiese verschwunden.
Eine bleibt allein, hebt die Hände über den Kopf, geht ab. Der Vibrationist –
fast der Letzte, der noch Töne erzeugt – schlägt nur mehr alle drei Schläge mit
den Schlegeln auf das Instrument, die restlichen schlägt er leer in die Luft.
Bald wird auch er ausgeklungen sein. Ich muß weinen.
Und dann der Applaus. Nimmt ein wenig den Schmerz von der
Seele, ohne die Schönheit zu zerstören.
(25.7.2022)
©Peter Alois Rumpf
Juli 2022
peteraloisrumpf@gmail.com
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