Montag, 25. Juli 2022

2813 Visionen

 

Bei den Nackten und den Roten, Weißen, Braunen. Angenehme Brisen streichen über die vielen nackten Häute. Nur ein Stehpaddler auf dem Wasser, und der hat sich hingekniet. Eine Heuschrecke hat sich soeben neben mich gesetzt. Sie bewegt sich sehr schön und elegant. Ihr Auge beobachtet mich. Sie dreht sich im Kreis (im Uhrzeigersinn? Vergessen!), verharrt Richtung Norden. Etwas Winziges an ihrem Körper zittert und glitzert – an – aus – an – aus – als würde sie Lichtmorsezeichen aussenden. Oh ich ungebildeter Mensch! Ich kann das Morsealphabeth nicht, sonst könnte ich ihre Botschaft verstehen. Jetzt springt sie mich an und klettert auf meinem Oberschenkel – das wird doch keine schamanische Liebeserklärung sein?! Eine verzauberte Fee, Hexe? Eine Todestrotzerin? Jetzt sitzt sie wieder unten. Sucht sie meinen Körperschatten auf? Der ungeduldige Wind will immer weiterblättern. Freund! Nicht so schnell! So schnell schreiben auch die Preußen nicht! Und wir sind nicht Preuße! Und wir wollen warten, bis die Heuschrecke ihren Auftrag erledigt hat. Die Heuschrecke ist so schön! Ihre geduldige Anwesenheit berührt mich (man gönnt sich ja sonst nichts!). Peter! Bitte vergiß nicht auf die Heuschrecke Acht zu geben, wenn du aufstehst und herumgehst. Behalte ein Auge auf sie, damit du sie nicht niedertrampelst.

Heiß ist es und einer segelt gegen den Wind. Die Heuschrecke ist nun weg. Adieu! Pass gut auf dich auf! (Ich habe ihren Absprung nicht bemerkt.) Gut, dass ich ins Gänsehäufel gefahren bin. Bevor ich das hingeschrieben habe, habe ich den Pilotschreiber kontrolliert, wie ein Impfarzt seine Spritze mit der Spitze nach oben. So amüsiere ich mich mit mir selbst. Ich gehe Wasser trinken.

Erfrischt vom getrunkenen und vom beschwommenen Wasser, gestärkt von Mais, den ich vom Kolben abgenagt habe, vom rumänischen Kartoffelbrot und den Maroni, blicke ich wieder mutig durch die Gegend. Viele vertrocknete Pappeln; nur eine in meiner Nähe ist tief grün. Soll ich die Mann-Erzählungen zu lesen beginnen? Paßt so gar nicht zum Ambiente hier, das muß aber kein Nachteil sein. Vielleicht halte ich den überschätzten Hamburger Regionalschriftsteller so besser aus.

Der Wind flüstert mir schamlos zu. „Ins Café! Ins Café! Du hast noch zehn Euro eingesteckt!“ Meine arme Frau arbeitet fleißig und plagt sich, spart hinten und vorne, und ich soll's verprassen? Nein! Noch leiste ich Widerstand. Ich frage meine Frau smsend, ob sie nicht hier her kommen möge, da fängt eine kleine Spinne an, von meinem Weinbauernhüterl aus vor mein Gesicht ein Spinnennetz zu weben; das der Wind jedoch gleich wieder verbläst. Und siehe da! Mein nacktes Weib schleicht sich an mir vorbei zum Wasser! Ich sehe sie nur von hinten und denke: „Diesen Arsch kenne ich doch!“ und rufe sie fragend an. Sie dreht sich um, grinst und geht einfach weiter zum Wasser. Will sie mich nicht kennen? Ist sie heimlich auf Lepschi? Habe ich sie gekränkt? Keine Ahnung – ich weiß nur: ich bin schuld.

Jetzt kommt der richtige Wind. Und die erste Mann-Erzählung, die ich lese, ist die „Vision“. Das ist ja mein Thema. Das Thema, das ich in tausend Varianten abgehandelt habe und abhandle! Er beschreibt das - Selbe - wie - ich! Gott sei's gar nicht geklagt: viel, viel besser als ich (das mit dem Regionalschriftsteller war nur eine Retourkutsche zu dem Vorfall an der Germanistik Wien, wo eine Doktorantin über Doderer dissertieren wollte und die bundesdeutsche Professorin das Ansuchen  mit dem Argument abgelehnt hat, sie betreue keine Arbeiten über Regionalschriftsteller. Doderer! Chuzpe!), viel sprachgewandter und sprachmächtiger, textpotenter, viel selbstbewußter und gebildeter, viel großbürgerlicher und wohlstandsunverwahrloster, kurz: viel gekonnter als ich Dalit.

Jetzt ist der richtige Wind da und bleibt. Wie ich schon oft hier deponiert habe, habe ich in meinem Leben so gut wie komplett resigniert. Ich habe nur mehr zwei Lebensträume: die Sahara zu bewässern und wieder zu bewalden. Und Unzucht. Ansonsten – wenn's hoch kommt – noch ein paar kleinere Initiativen in die Welt setzen und in die Bahnen bringen. Zum Beispiel „Veganes Totalfasten für sieben Tage“ oder „die räumliche Trennung von Licht und Wärme“. Das wär's.

Ach, noch das: ich habe gerade meiner Frau die Mann'sch Vision zum Lesen gegeben und sie bestätigt mir die Ähnlichkeit des Sujets und der beschriebenen Erfahrungen, verweigert mir aber die Zustimmung, wenn es um die haushoch bessere Qualität des Mann'schen Textes geht. Meine wären nicht nur nicht schlechter, sondern besser. Zum Beispiel weniger schwulstig. Ein Hoch auf den Widerspruchsgeist meines lieben Weibes mir gegenüber! Ein dreifach Hoch! Hoch! Hoch! Und immerhin ist sie Tagesmutter von Beruf und Magistra artis der Studienrichtung TEXTiles Gestalten!!!

 

(25.7.2022)

©Peter Alois Rumpf  Juli 2022   peteraloisrumpf@gmail.com

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