2813 Visionen
Bei den Nackten und den Roten, Weißen, Braunen. Angenehme
Brisen streichen über die vielen nackten Häute. Nur ein Stehpaddler auf dem
Wasser, und der hat sich hingekniet. Eine Heuschrecke hat sich soeben neben
mich gesetzt. Sie bewegt sich sehr schön und elegant. Ihr Auge beobachtet mich.
Sie dreht sich im Kreis (im Uhrzeigersinn? Vergessen!), verharrt Richtung
Norden. Etwas Winziges an ihrem Körper zittert und glitzert – an – aus – an –
aus – als würde sie Lichtmorsezeichen aussenden. Oh ich ungebildeter Mensch!
Ich kann das Morsealphabeth nicht, sonst könnte ich ihre Botschaft verstehen.
Jetzt springt sie mich an und klettert auf meinem Oberschenkel – das wird doch
keine schamanische Liebeserklärung sein?! Eine verzauberte Fee, Hexe? Eine
Todestrotzerin? Jetzt sitzt sie wieder unten. Sucht sie meinen Körperschatten
auf? Der ungeduldige Wind will immer weiterblättern. Freund! Nicht so schnell!
So schnell schreiben auch die Preußen nicht! Und wir sind nicht Preuße! Und wir
wollen warten, bis die Heuschrecke ihren Auftrag erledigt hat. Die Heuschrecke
ist so schön! Ihre geduldige Anwesenheit berührt mich (man gönnt sich ja sonst
nichts!). Peter! Bitte vergiß nicht auf die Heuschrecke Acht zu geben, wenn du
aufstehst und herumgehst. Behalte ein Auge auf sie, damit du sie nicht
niedertrampelst.
Heiß ist es und einer segelt gegen den Wind. Die Heuschrecke
ist nun weg. Adieu! Pass gut auf dich auf! (Ich habe ihren Absprung nicht
bemerkt.) Gut, dass ich ins Gänsehäufel gefahren bin. Bevor ich das
hingeschrieben habe, habe ich den Pilotschreiber kontrolliert, wie ein Impfarzt
seine Spritze mit der Spitze nach oben. So amüsiere ich mich mit mir selbst.
Ich gehe Wasser trinken.
Erfrischt vom getrunkenen und vom beschwommenen Wasser,
gestärkt von Mais, den ich vom Kolben abgenagt habe, vom rumänischen
Kartoffelbrot und den Maroni, blicke ich wieder mutig durch die Gegend. Viele
vertrocknete Pappeln; nur eine in meiner Nähe ist tief grün. Soll ich die
Mann-Erzählungen zu lesen beginnen? Paßt so gar nicht zum Ambiente hier, das
muß aber kein Nachteil sein. Vielleicht halte ich den überschätzten Hamburger
Regionalschriftsteller so besser aus.
Der Wind flüstert mir schamlos zu. „Ins Café! Ins Café! Du
hast noch zehn Euro eingesteckt!“ Meine arme Frau arbeitet fleißig und plagt
sich, spart hinten und vorne, und ich soll's verprassen? Nein! Noch leiste ich
Widerstand. Ich frage meine Frau smsend, ob sie nicht hier her kommen möge, da
fängt eine kleine Spinne an, von meinem Weinbauernhüterl aus vor mein Gesicht
ein Spinnennetz zu weben; das der Wind jedoch gleich wieder verbläst. Und siehe
da! Mein nacktes Weib schleicht sich an mir vorbei zum Wasser! Ich sehe sie nur
von hinten und denke: „Diesen Arsch kenne ich doch!“ und rufe sie fragend an.
Sie dreht sich um, grinst und geht einfach weiter zum Wasser. Will sie mich
nicht kennen? Ist sie heimlich auf Lepschi? Habe ich sie gekränkt? Keine Ahnung
– ich weiß nur: ich bin schuld.
Jetzt kommt der richtige Wind. Und die erste Mann-Erzählung,
die ich lese, ist die „Vision“. Das ist ja mein Thema. Das Thema, das ich in
tausend Varianten abgehandelt habe und abhandle! Er beschreibt das - Selbe -
wie - ich! Gott sei's gar nicht geklagt: viel, viel besser als ich (das mit dem
Regionalschriftsteller war nur eine Retourkutsche zu dem Vorfall an der
Germanistik Wien, wo eine Doktorantin über Doderer dissertieren wollte und die
bundesdeutsche Professorin das Ansuchen
mit dem Argument abgelehnt hat, sie betreue keine Arbeiten über
Regionalschriftsteller. Doderer! Chuzpe!), viel sprachgewandter und
sprachmächtiger, textpotenter, viel selbstbewußter und gebildeter, viel
großbürgerlicher und wohlstandsunverwahrloster, kurz: viel gekonnter als ich
Dalit.
Jetzt ist der richtige Wind da und bleibt. Wie ich schon oft
hier deponiert habe, habe ich in meinem Leben so gut wie komplett resigniert.
Ich habe nur mehr zwei Lebensträume: die Sahara zu bewässern und wieder zu
bewalden. Und Unzucht. Ansonsten – wenn's hoch kommt – noch ein paar kleinere
Initiativen in die Welt setzen und in die Bahnen bringen. Zum Beispiel „Veganes
Totalfasten für sieben Tage“ oder „die räumliche Trennung von Licht und Wärme“.
Das wär's.
Ach, noch das: ich habe gerade meiner Frau die Mann'sch
Vision zum Lesen gegeben und sie bestätigt mir die Ähnlichkeit des Sujets und
der beschriebenen Erfahrungen, verweigert mir aber die Zustimmung, wenn es um
die haushoch bessere Qualität des Mann'schen Textes geht. Meine wären nicht nur
nicht schlechter, sondern besser. Zum Beispiel weniger schwulstig. Ein Hoch auf
den Widerspruchsgeist meines lieben Weibes mir gegenüber! Ein dreifach Hoch!
Hoch! Hoch! Und immerhin ist sie Tagesmutter von Beruf und Magistra artis der
Studienrichtung TEXTiles Gestalten!!!
(25.7.2022)
©Peter Alois Rumpf
Juli 2022
peteraloisrumpf@gmail.com
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