2290 Die Lippen
Der Mund redet, der Lautsprecher spricht. Die Lippen: fast
ein Tanz. Die Bilder sind stärker als die Worte. Der Schall ist stärker als die
Bilder, aber die Sprache ist schwächer als die Bilder. „Zeitabgeleitetes
Denken“: nur Einzelnes erreicht mein Bewußtsein. „Kapitalismus“ - natürlich
entgeht das Wort nicht meiner Aufmerksamkeit. „Vergänglichkeit“ und „Anmaßung“,
„ …. Kinderglaube“. Vielleicht muß ich noch dazu sagen: es ist der Mund einer
Frau, groß am Bildschirm als pars pro toto. (Ich sitze in der Ausstellung
Herwig Steiner, kunst der attrappe im MAG3.)
Die anderen Bilder an der Wand ziehen meine Aufmerksamkeit
auf sich - „Schlachtenbilder“ - soeben gehört - war ein tolles Stichwort (von
Gue Schmidt): Statik und unglaubliche Dynamik. Zurück zu den schönen Lippen,
die in den Pausen zwischen den Wörtern beinah ratlos verharren. Manchmal
zittern sie leicht. Manchmal huscht auch ein Lächeln über die Mundwinkel. Hinter
den bewegten Zähnen lugt immer wieder die Zunge hervor. Der gesprochene Text
ist für mich in seiner intellektuellen Abgeschottetheit unerreichbar, aber die
Lippen so weich, pressen aufeinander, wenn die Spucke hinuntergeschluckt wird.
Die Spucke, die vereinzelt als zarte Fäden sichtbar wird, was ich nicht als
Missgeschick sehe, sondern als sanftes, lebendiges Zeichen der Anstrengung und
der lebenden Person. Wie auch das Aneinanderkleben der Lippen in den
Mundwinkeln beim Öffnen des Mundes. Und die leichte Wölbung der Oberlippe in
ihrer Mitte, die diese Furche von der Nase zur Lippe weiter abbildet. Der Mund
spricht monoton, fast ein wenig klagend. Und wie die Lippen nach außen gepresst
werden, wenn sie beim Schließen aufeinandergedrückt werden. „Progressive
Auslöschung des Individuums“, „Freiheit“, „Trugbild“.
(11.6.2021)
©Peter Alois Rumpf Juni 2021
peteraloisrumpf@gmail.com
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