Freitag, 11. Juni 2021

2290 Die Lippen

 

Der Mund redet, der Lautsprecher spricht. Die Lippen: fast ein Tanz. Die Bilder sind stärker als die Worte. Der Schall ist stärker als die Bilder, aber die Sprache ist schwächer als die Bilder. „Zeitabgeleitetes Denken“: nur Einzelnes erreicht mein Bewußtsein. „Kapitalismus“ - natürlich entgeht das Wort nicht meiner Aufmerksamkeit. „Vergänglichkeit“ und „Anmaßung“, „ …. Kinderglaube“. Vielleicht muß ich noch dazu sagen: es ist der Mund einer Frau, groß am Bildschirm als pars pro toto. (Ich sitze in der Ausstellung Herwig Steiner, kunst der attrappe im MAG3.)

Die anderen Bilder an der Wand ziehen meine Aufmerksamkeit auf sich - „Schlachtenbilder“ - soeben gehört - war ein tolles Stichwort (von Gue Schmidt): Statik und unglaubliche Dynamik. Zurück zu den schönen Lippen, die in den Pausen zwischen den Wörtern beinah ratlos verharren. Manchmal zittern sie leicht. Manchmal huscht auch ein Lächeln über die Mundwinkel. Hinter den bewegten Zähnen lugt immer wieder die Zunge hervor. Der gesprochene Text ist für mich in seiner intellektuellen Abgeschottetheit unerreichbar, aber die Lippen so weich, pressen aufeinander, wenn die Spucke hinuntergeschluckt wird. Die Spucke, die vereinzelt als zarte Fäden sichtbar wird, was ich nicht als Missgeschick sehe, sondern als sanftes, lebendiges Zeichen der Anstrengung und der lebenden Person. Wie auch das Aneinanderkleben der Lippen in den Mundwinkeln beim Öffnen des Mundes. Und die leichte Wölbung der Oberlippe in ihrer Mitte, die diese Furche von der Nase zur Lippe weiter abbildet. Der Mund spricht monoton, fast ein wenig klagend. Und wie die Lippen nach außen gepresst werden, wenn sie beim Schließen aufeinandergedrückt werden. „Progressive Auslöschung des Individuums“, „Freiheit“, „Trugbild“.

 

(11.6.2021)

 

©Peter Alois Rumpf   Juni 2021   peteraloisrumpf@gmail.com

 

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