1957 Das Schaff zum Beispiel
Ich raste bei der schönen Frau von Alex Katz, bei der mit
dem blauen Hintergrund: die Trauer über den Verlust des Anderen (neutrum) und
über das sich-im-Funktionellen-einrichten-Müssen ist so spürbar. Der Blick
schmerzlich ins Leere, alle Geheimnisse unzugänglich, nur der Schmerz selbst
hält noch die Ahnung wach. Im anderen Raum dahinter der nichtssagende
Mao-Scheißdreck vom maßlos überschätzten Warhol, der durch den offenen
Durchgang zu mir herüberbelästigt. Wie schon einmal notiert: auch der
Lächelnden mit Sonnenbrille und großem schwarzen Hut ist Trauer und Schmerz
anzusehen. Und auch eine im – wie es scheint – Abendlicht, älter, verkrampfter,
verhärmter, aber auch sie zeigt diese unglaubliche Trauer, diesen unglaublichen
Schmerz in den Augen. Bei den Burschen rechts von ihr nichts davon, dumpfe,
ausdruckslose Augen, sie wissen nichts, ahnen nichts (oder ist das meine
Projektion?), das Licht streift sie seitlich von hinten, nichts
heraus-individualisiert.
Jetzt habe ich mich zu den drei Frauen umgedreht: dieser
Schmerz und diese Trauer werfen mich – so groß und intensiv – fast um, mir
steigen Tränen auf, die ich aber abwürge und niederschreibe. Nur die linke
Frau, die links aus dem Bild hinausschaut – die zwei anderen schauen schräg
frontal aus dem Bild heraus, aber in die grausame Leere, ungefähr dort hin, wo
die Betrachter stehen und sitzen, aber an uns vorbei, durch uns hindurch – die
eine also, die links aus dem Bild schaut, hat ihre ganz deutlich in den Augen
spürbare Trauer mit einem kleinen Lächeln abgemildert. Diese drei Porträts sind
so stark, daß der eigenartige Bildhintergrund gerade noch nicht stört. Ich
frage mich, ob die Porträts als Akte noch deutlicher wären – ich probiere, die
Ältere, deren Körper in blauem Kleid bis ungefähr zum Schoß sichtbar ist, mir
nackt vorzustellen – aber nein! Nein, es wäre zu viel. Kleidung und Schmuck
können den Schmerz nicht überdecken; unfreiwillig heben sie die Trauer noch
hervor.
Ich gebe ja zu, daß die Richters etwas g'schmackiges haben,
aber nichtsdestotrotz gefallen sie mir sehr. Heute jedoch verweile ich nur kurz
und gehe weiter.
Es gibt keine frustrierendere Zeit als den Spätwinter. Wo
der Winter schon seine weißen Hüllen aufgegeben hat, aber der Frühling noch
nichts sichtbares austreibt. Nie sonst im Jahr sind die Nerven so beansprucht.
Beansprucht vom Zusammenhalten der sich auflösenden Welt, die ihre
(scheinbare?) Sinnlosigkeit nicht mehr zu verbergen fähig ist. Nie sonst ist
die seelische Erschöpfung so groß. Ich sitze auf den Stufen vor Munchs
Winterlandschaft. Dennoch gewinnt Munch der tristen Winterlandschaft am Meer
echte Schönheit ab. Selbst dieses schon unerträgliche Braun wird stellenweise so
intensiv und schön. Die Weite von Himmel und Meer, bläulich, weiß, von Dunst,
Wolken und Nebel verdeckt, ist nicht völlig verschwunden. Die letzten
Schneeflecken, wie erbrochene Sinnlosigkeit, lasch, vergänglich, schmutzig,
fast schon ohne Substanz: und doch malt er sie schön, indem er die Farben und
die Schönheit – zum Beispiel das Blau oder Violett am Rande der Schneefelder –
aus der Verzweiflung der Welt heraus holt. Was für ein Gemälde!
Meine Städte von Kokoschka! Ich lasse sie auf meiner
Wanderung nie aus. Was für Farben! Was für ein Reichtum! Was für präzise
Pinselstriche! Was für ein Farbauftrag! Was für eine Komposition! So locker
hingeworfen und so genau! Und die Flüsse! Und erst die Himmel! Ich verkünde es
laut: die gehören zu den schönsten Bildern der Welt! (Der Thöny, den ich
eigentlich mag, rechts davon, geht mir regelmäßig unter.) (Weil ich ja so viele
Bilder kenne …)
Heute setze ich mich
- weil endlich einmal ein Platz frei ist – zu meinem Lieblingschagall:
der Papierdrachen. Was mich sofort für das Bild einnimmt: das tiefe, starke,
dominierende Blau. Und wie die anderen Farben feinfühlig aber bestimmt dazu
gesellt sind. Heute entdecke ich zum ersten Mal den blauen Geher (seht ihr! Ich
schaue gar nicht so genau hin!). Das Wasserschaff für die Ziege zum Beispiel:
so schön, so gekonnt, so liebevoll gemalt. Die scharfen Konturen der Dächer
gegen den reichen, weißen Himmel. Dieser hingebungsvolle, blaue Erdboden im
Ziegenkobel. Ein realistisches Dorf, eine realistische Landschft, ein
realistischer Himmel – die aber durchscheinend werden.
Giacomettis vier Frauen, von ihm unerreichbar auf einen
großen Sockel gestellt, lösen sich in der Entfernung beinah zu metallenen
Strichen auf. Wenn ich nahe hingehe, betrachte ich aber mehr ihre an die Wand
geworfenen Schatten. Die habe es mir angetan! Mit Transparenz und Tiefe
ergänzen sie die filigranen, dünnen, festen weiblichen Korpora und verteidigen
sie.
Und wenn ich schon dabei bin, gehe ich auch zu seiner
Landschaft rüber – so wild und abstrakt, als könnte er sie gar nicht erfassen,
als überwältige sie ihn und er muß ganz wild arbeiten, um sich zu retten und
ihre Quintessenz ins Bild zu bringen. Für mich ein ganz tolles Bild! (Trauer
kommt mir auch da in den Sinn und ins Gemüt. Ich weiß: schon wieder die Trauer.
Aber sie ist einfach da!)
(24.8.2020)
©Peter
Alois Rumpf August 2020 peteraloisrumpf@gmail.com
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