1954 Am Fenster im dritten Stock
Die Sonne beleuchtet die gegenüberliegende
Gründerzeitfassade strahlend hell. Die zwei Sitzbänke unten bei den drei jungen
Bäumen liegen schon im Schatten. Eine athletische Frau steht von der einen Bank
auf, geht ein paar Schritte aus meinem Gesichtsfeld, kommt auf dem Rückweg
wieder vorbei und verläßt dann aufrecht und erhobenen Hauptes schreitend den
kleinen Platz. Auf der anderen Bank blättert ein Mann gekrümmt und hektisch in
einer Zeitung.
Eine tapfere Radfahrerin – mir bekannt! - zeigt einem sie
anhupenden Autofahrer hinter ihr, der sie von der Straße verjagen will, ich
glaube den Stinkefinger. Brava!
Viele bunte Autos für einen Sonntag. Die nachmittägliche
Sonntagslangeweile, schon unterlegt mit der Nervosität vom Wochenbeginn, steigt
mir aus dieser zur Szene degradierten Wirklichkeit zum dritten Stock herauf -
ein Gefühl längst vergangener Tage: der Sonntag neigt sich zu Ende, es geht
sich nicht mehr aus, etwas neues zu beginnen, die Sache ist vorbei, es kommt
nichts mehr tolleres an diesem wie immer so verheißungsvoll erwarteten
Wochenende; morgen ist wieder Schule und die Angst und der nervöse Druck im
Bauch gewinnen schon die Oberhand.
Durch zwei offene Fenster im Haus gegenüber sehe ich auf
zwei Betten, die zum Lüften bereitet liegen.
Leichter Wind schaukelt die jungen Äste unten. Viel
Autolärm, Geschrei, Türenschlagen. Oh! Frau und Tochter fahren mit dem Rad
davon. Ich weiß ja gar nichts. Auch gut. Kinderrufe. Ein ungewöhnlicher
Wolkenhimmel: weiße Haufenwölkchen, die sich in beständige Streifen auflösen.
Blaue, aber mit dünner weißen Nebelschicht überzogene Himmelsflecken
suggerieren am Horizont Berge, wo keine sind. Einen solchen Himmel hätte ich
eher dem Winter zugeordnet.
Wo kommen alle die Autos her und wo wollen sie hin? Durch
diese stille Gasse strömt sonst viel weniger Verkehr. Alles Rückkehrer aus dem
Wochenende? Deshalb die immer stärker werdende Nervosität und Hektik da unten?
Diese Autowelt ist mein Lebtag lang an mir vorbeigegangen. Kindergeschrei –
nicht unsympathisch.
Auto um Auto nimmt die Kurve unten. Fremde, fremde Welt! Der
Mann auf der Bank: der große Fernseher von gegenüber? In dessem Reich der
Fernsehapparat nie ausgeht?
Jetzt steht er nicht ohne Mühe vom Sitzen auf und setzt sich
nicht ohne Anstrengung in Bewegung, geht ab in eine andere als die erwartete
Richtung. Sein Haustor wäre auf der anderen Seite.
(23.8.2020)
©Peter Alois Rumpf August 2020 peteraloisrumpf@gmail.com
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