Sonntag, 23. August 2020

1954 Am Fenster im dritten Stock

 

Die Sonne beleuchtet die gegenüberliegende Gründerzeitfassade strahlend hell. Die zwei Sitzbänke unten bei den drei jungen Bäumen liegen schon im Schatten. Eine athletische Frau steht von der einen Bank auf, geht ein paar Schritte aus meinem Gesichtsfeld, kommt auf dem Rückweg wieder vorbei und verläßt dann aufrecht und erhobenen Hauptes schreitend den kleinen Platz. Auf der anderen Bank blättert ein Mann gekrümmt und hektisch in einer Zeitung.

Eine tapfere Radfahrerin – mir bekannt! - zeigt einem sie anhupenden Autofahrer hinter ihr, der sie von der Straße verjagen will, ich glaube den Stinkefinger. Brava!

Viele bunte Autos für einen Sonntag. Die nachmittägliche Sonntagslangeweile, schon unterlegt mit der Nervosität vom Wochenbeginn, steigt mir aus dieser zur Szene degradierten Wirklichkeit zum dritten Stock herauf - ein Gefühl längst vergangener Tage: der Sonntag neigt sich zu Ende, es geht sich nicht mehr aus, etwas neues zu beginnen, die Sache ist vorbei, es kommt nichts mehr tolleres an diesem wie immer so verheißungsvoll erwarteten Wochenende; morgen ist wieder Schule und die Angst und der nervöse Druck im Bauch gewinnen schon die Oberhand.

Durch zwei offene Fenster im Haus gegenüber sehe ich auf zwei Betten, die zum Lüften bereitet liegen.

Leichter Wind schaukelt die jungen Äste unten. Viel Autolärm, Geschrei, Türenschlagen. Oh! Frau und Tochter fahren mit dem Rad davon. Ich weiß ja gar nichts. Auch gut. Kinderrufe. Ein ungewöhnlicher Wolkenhimmel: weiße Haufenwölkchen, die sich in beständige Streifen auflösen. Blaue, aber mit dünner weißen Nebelschicht überzogene Himmelsflecken suggerieren am Horizont Berge, wo keine sind. Einen solchen Himmel hätte ich eher dem Winter zugeordnet.

Wo kommen alle die Autos her und wo wollen sie hin? Durch diese stille Gasse strömt sonst viel weniger Verkehr. Alles Rückkehrer aus dem Wochenende? Deshalb die immer stärker werdende Nervosität und Hektik da unten? Diese Autowelt ist mein Lebtag lang an mir vorbeigegangen. Kindergeschrei – nicht unsympathisch.

Auto um Auto nimmt die Kurve unten. Fremde, fremde Welt! Der Mann auf der Bank: der große Fernseher von gegenüber? In dessem Reich der Fernsehapparat nie ausgeht?

Jetzt steht er nicht ohne Mühe vom Sitzen auf und setzt sich nicht ohne Anstrengung in Bewegung, geht ab in eine andere als die erwartete Richtung. Sein Haustor wäre auf der anderen Seite.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

(23.8.2020)

 

 

 

 

 

 

 

 

©Peter Alois Rumpf   August 2020   peteraloisrumpf@gmail.com

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