Mittwoch, 5. Februar 2020

1738 Mein Selbstmord


Irdning ist ein Markt in der Steiermark mit zirka 2750 Einwohnern, dessen Name auf einen slawischen Namen – ich kenne zwei Ableitungen: eine auf wild, zornig – das auf einen Bach bezogen ist und eine auf Tannenwald. Jedenfalls bezieht sich dieser Name auf das heutige Altirdning, denn der nunmehr Irdning genannte Markt ist eine geplante und angelegte Siedlung. Deshalb steht die Kirche auch an der schönsten und höchsten Stelle des Schwemmkegels am Rand des an dieser Stelle sehr breiten Ennstals – wäre der Ort organisch gewachsen, hätte sich wohl der erste Siedler an dieser Stelle niedergelassen.
Diese Kirche umgibt ein Park, der an Stelle des früheren Friedhofs in späteren Zeiten angelegt wurde. Vorne, zum Marktplatz hin, sind Kastanienbäume gepflanzt – in meiner Kindheit waren die noch groß und prächtig, heute sind sie wegen Neupflanzung klein und schmächtig. Das Gelände fällt an zwei  Seiten zu der den Markt durchlaufenden Straße ab und dieser Geländeabbruch ist vermauert und oben im Park mit einem Geländer abgesichert, Mauer und Geländer sind nur an zwei Stellen für eine kleine Stiege südseitig und eine große Treppe, den Hauptaufgang zur Kirche vom Westen her, unterbrochen. An der Ostseite ist der Park ganz offen und man geht ebenerdig in den Park. Jenseits der Straße stehen in einer Reihe die einstöckigen alten Markthäuser des Hauptplatzes.

Ich stehe also in diesem Park im Zentrum des Ortes, nahe bei der südseitigen kleinen Stiege, es ist Abend und schon dunkel. Wenige Menschen sind unterwegs. Wie das in Träumen so ist, nehme ich sie nur verschwommen und undeutlich wahr und beachte sie nicht weiter.

Hier steh ich also und habe beschlossen, mich umzubringen. Mein Leben hat keine rechte Perspektive mehr, ich sehe keinen rechten Sinn, meine Chancen – so ich welche hatte – habe ich vertan, meine Talente – die ich sicher habe - und gar nicht wenige - konnte ich nicht einbringen.
Ich bin überhaupt nicht verzweifelt, der Entschluß ist eine nüchterne, rationale Konsequenz aus meiner gescheiterten Existenz. Das Wort „ge-scheit-ert“ kommt ja tatsächlich vom Schiff, das in seine Holzscheite zersplittert ist und untergeht, und in diesem Bild wäre ich der Kapitän, der erkennt, daß sein Schiff nicht mehr zu retten ist und tapfer und ohne mit der Wimper zu zucken mit ihm untergehen muß.

Ich habe vor, mich an dieser Stelle hier mit Benzin zu übergießen und anzuzünden.

Diese Todesart stelle ich mir jetzt als aufgewachter Mensch ziemlich grausam und schmerzhaft vor, aber dennoch gehört sie zu meinem Lieblingstagtraum – ich betone: Tagtraum – wenn ich auf der Krankenkasse zu tun hatte: irgendwelche Anträge zu stellen, Dokumente ein- und nachreichen – die selben schon zum zwanzigsten Mal – oder wenn ich zum fünfzigsten Mal das gleiche Formular mit den unveränderten Angaben ausfüllen muß und so weiter und so fort. Dieser Bittstellermodus ist extrem entwürdigend und erniedrigend. Mir ist dann vorgekommen, daß man uns hier absichtlich und systematisch sekkiert, sozusagen strukturell – und da habe ich mir oft in der Phantasie ausgemalt, ich übergieße mich mit Benzin, zünde mich an und überspring als Brennender die Barriere zu den kranken Kassenbüttel, um sie auch ein wenig an meinem Feuer teilhaben zu lassen. Und es soll sie schon ordentlich erschrecken, das Feuer droht auf sie überzugreifen, ich schreie schon unmenschlich vor Schmerz und sie werden das nie mehr vergessen. Der Anblick vom Brennenden wird sie ewig verfolgen und die Schreie werden sie nie mehr aus ihren Ohren bekommen.

Hier im Traum – ich betone: im echten Traum – sind meine Stimmung und Haltung gänzlich ohne Wut und Verbitterung, höchstens ein wenig traurig und resignativ – ich habe endgültig aufgegeben, ich habe im Leben nichts Gscheites mehr zu erwarten.

Ich übergieße mich also mit Benzin, versuche mich anzuzünden, aber im Freien bläst mir der Wind ständig das Zündholz aus. Ich denke mir: Gehst halt in die Kirche zu den depperten Pfaffen! Also gehe ich in die aus meiner Kindheit wohl vertraute und geliebte Kirche hinein. Es sind ein paar Leute da, in einem Seitenschiff, durch Säulen verdeckt findet irgendeine Besprechung unter einer Handvoll Pfarrmitarbeitern statt. Nur dort ist ein schwaches Licht aufgedreht, sonst ist der große und hohe Kirchenraum im Dunkeln, auch bei mir hier in der Nähe des Eingangs.

Ich zünde mich also an. Ich sehe zwar keine Flammen, aber bald ist die ganze Kirche voller Rauch, ganz dicht eingenebelt, und ich wundere mich noch, daß das niemand der Leute merkt. Die reden einfach weiter als wär nichts.

Dann blicke ich auf den verkohlten Leichnam und mir wird klar: ich habe mich selber umgebracht, aber einen anderen getötet! Der andere ist so ein zwölf- bis vierzehnjähriger Bub, der auf dem Kirchplatz mit seinem Fahrrad herumgefahren ist, wie ich es in dem Alter auch oft gemacht habe, um zu schauen, ob im Zentrum etwas los ist, ob andere Jugendliche da sind, oder auch nur so, um einer inneren Unruhe Auslauf zu geben. Ich bin also kein Selbstmörder, sondern ein Mörder.

Und wie in einem Krimi im Fernsehen kann ich nun verfolgen, wie die Geschichte weitergeht: der Mörder – also ich – ich kann ihn wie im Film auf dem Bildschirm sehen – der jüngere Mann schaut mir gar nicht ähnlich – ich hätte ihn vom Aussehen, seiner Sprache, seinen Gesten her eher für einen Deutschen gehalten – nimmt das Fahrrad des Jungen und fährt damit nach England. Also habe ich den Selbstmord vorgetäuscht und die verkohlte Leiche des Buben als meine da in der Kirche gelassen.

Von England flüchtet der Täter – bin das wirklich ich? Peter, der Täter? - nach Norddeutschland – eine schlauer und gerissener Trick, um eventuelle Verfolger in die Irre zu führen – falls der Trick mit der unterschobenen Leiche nicht funktioniert.
In Norddeutschland arbeitet der Täter auf Tankstellen, als Lastwagenfahrer, was halt so hergeht, und schlägt sich so durch. Mehrmals wäre er beinahe aufgeflogen, aber sehr geschickt schafft er es immer, doch unaufgedeckt zu bleiben und davonzukommen. Sein Ziel scheint Skandinavien zu sein. Wird er also doch gesucht und verfolgt?

Obwohl mir der Täter sehr fremd ist, glaube ich zu wissen, daß das ich bin, dessen Flucht ich am Bildschirm verfolge. Der „Bildschirm“ ist im Traum nicht real, sondern ich sehe das Geschehen im beleuchteten Bereich der Kirche, aber eben eindeutig als Zuschauer einer auf die Lichtkugel projizierten oder als eine in der Lichtkugel aufleuchtende Liveübertragung.
Und obwohl der Täter für mich so deutsch wirkt, weiß ich, daß er aus Graz stammt. Und tatsächlich: irgendwo im Norden spricht eine ältere Frau den jungen Mann an und sagt. „Ich kenne dich! Wir waren als Kinder in Graz viel zusammen! Auch im Kindergarten!“
Anscheinend weiß sie noch nichts von der Fahndung, zumindest wirkt ihre Reaktion ganz unbefangen, offen und ehrlich. Aber schon den ganzen Krimi lang zittere ich mit dem jungen Mann mit, wenn er in Gefahr ist, habe ich horrende Angst, wirklich so, als wäre ich er. Und auch jetzt ist mir sofort klar: das wird jetzt bald auffliegen!

Jetzt stehe ich in Irdning vor der Kirche oben im Park, auf der Westseite, auf diesem kurzen Stück zwischen Kirche plus Mesnerhäusl und der großen Treppe, oberhalb des Platzes, wo früher die Haltestelle des Postautobusses war. Es ist Tag. Unten am Geländer der Parkeinfriedung, gleich  mir zu Füßen liegt verschiedenes Zeugs, ordentlich geschlichtet, soweit es geht, wie Materialien auf Baustellen. Da steckt im am Geländer angelehnten Haufen auch ein eingerollter Teppich und mir wird klar, daß da die verkohlte Leiche des Fahrrad fahrenden Buben eingewickelt ist. Die Leiche ist mehr als verkohlt: es sind keine Knochen übrig und es schaut mehr wie zusammengepresste Asche einer archäologischen Schicht bei Ausgrabungen aus. Spielende Kinder beginnen schon mit einem Steckerl in diesem gepressten Aschenkonglomerat herumzustochern und schon interessiert sich dafür ein Kriminalbeamter in Zivil und kommt eilig näher …


Als ich aus diesem Traum aufwache, zittere ich am ganzen Körper und habe eine Heidenangst. Ich bin wie von innen erfroren und in Panik rolle ich mich ein und warte, bis ich mich unter der Bettdecke  wieder ein wenig erwärmt habe.













(5.2.2020)












©Peter Alois Rumpf,  Februar 2020  peteraloisrumpf@gmail.com


0 Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Abonnieren Kommentare zum Post [Atom]

<< Startseite