1563 Der Versager
Angeregt durch meine letzte Therapiesitzung bin ich wieder
darauf gestoßen, daß ich mit fünfzehn Jahren ein Tagebuch zu schreiben
angefangen habe. Ich hab das Büchlein – diese typischen Tagebücher für junge
Mädchen mit Verschluß, der leicht aufzubrechen ist, und Schlüsselchen – schon
lange nicht mehr, aber ich kann mich noch an einen Satz ziemlich am Anfang
erinnern. „Mir wurden Grüße ausgerichtet!“ Und daran sehr genau, daß ich recht
bald eine ganze Seite mit dem Satz „Ich bin ein Versager“ vollgeschrieben habe.
Eine ganze Seite. Damit habe ich nur das Mantra wiedergegeben, daß ich fünfzehn
Jahre lang gehört und gesehen hatte – gehört ganz normal die Aussagen meiner
Eltern und anderer; gesehen an deren Mimik, Gestik und so weiter. Wir haben
jetzt vermutlich ziemlich genau das Fünfzig-Jahre-Jubiläum dieses Eintrags zu
feiern und – wie schon gesagt, angeregt durch die gestrige Therapiesitzung habe
ich mich zum ersten Mal gefragt, was „Versager“ eigentlich bedeutet, und
vorallem: welchen etymologischen Hintergrund hat dieses Wort, oder anders: warum
ver-sagen? Was hat das mit sagen zu tun?
Laut Wikipedia bezeichnet Versager „als Schimpfwort einen
Minderleister“ oder – in der Sprengtechnik - „einen nicht explodierten
Sprengzünder oder eine nicht explodierte Schlagpatrone“. So viel kann ich schon
verraten, daß mir die zweite Definition als sehr aufschlußreich vorkommt.
Aber schauen wir zunächst noch auf das Wort „versagen“. Ich
schlage auf Anhieb mein etymologisches Wörterbuch eine Seite neben der
gesuchten auf, aber dort steht kein „versagen“ (vielleicht ist das eines).
DWDS, der deutsche Wortschatz von 1600 bis heute (www.dwds.de)
kennt folgende Bedeutungen: 1 „etwas verweigern“: A „etwas verweigern“; „der
Arzt versagte (=verbot) ihm jegliche Ausschweifung“. B „sich etwas nicht
zugestehen, auf etwas verzichten“; „er versagte sich [Dativ] weitere Fragen zu stellen“. C „gehoben
sich jemandem nicht hingeben zu (geschlechtlichem) Verkehr.“; „sie hat sich ihm
stets versagt.“ 2 „nicht das Erwartete
leisten“: A „an einer Aufgabe
scheitern“; „er hatte körperlich und geistig völlig versagt“. B „(etwas versagt) etwas funktioniert nicht“.
„Der Motor, die Bremse versagte“. Die Etymologie, soweit sie sich mir
erschlossen hat, gibt nicht viel her; ich weiß immer noch nicht, was „versagen“
mit „sagen“ zu tun hat.
Was auffällt im Sprachgebrauch: Versagerinnen gibt es nicht,
das scheint demnach ein rein männliches Konzept zu sein. Ja, was solls: das ist
ein rein männliches Konzept und betrifft nur Männer und Buben. Von ihnen wird
Einiges erwartet. Die Gesellschaft, die Väter und vor allem die Mütter bauen
auf ihre Söhne, haben Aufträge, Erwartungen, Vorstellungen für sie (so durfte
ich als Sohn das Gymnasium besuchen, während meine begabten Schwestern das
„nicht brauchen, weil sie dann eh heiraten werden“ - so meine Mutter (!).) Ist
ein Versager ein Mann, der das Versprechen, die „Ansage“, die mit
dem Nomen „Mann“ verknüpft ist (stark, dominant, beschützend) nicht erfüllt?
Für meine Lebensgeschichte paßt auch sehr gut „der nicht
explodierte Sprengzünder“, weil ich sicherlich den Mutterauftrag hatte, meinen
Vater, den meine Mutter verachtete, „wegzusprengen“, zumindest zu besiegen als
Rächer der enttäuschten Mutter (ob zu recht oder unrecht enttäuscht ist eine
ganz andere Frage).
Gestern habe ich noch – angeregt durch die letzte
Therapiesitzung, wo wir auch freudsche Versprecher und Verschreiber („Kopf“
statt „Topf“ z.B. im vorigen Text) behandelt haben, wo sich also ein
verdrängtes Wissen, ein verdrängter Sinn gegen Widerstand an die Oberfläche des
Bewußtseins durchkämpfen will – eine neue „sinnanalytische“ Methode erfunden,
für den Fall, daß man in der Deutung nicht weiterkommt: die „legasthenische
Methode“, bei der man/frau mit Vertauschen und Verschieben einzelner Buchstaben
herumspielt.
Und nach der „legasthenischen Methode“ ist das einfach so:
„Versager“ - „Vergaser“. Womit wir bei der ererbten Schuld sind. Amen!
(26.10.2019)
©Peter Alois Rumpf, Oktober 2019
peteraloisrumpf@gmail.com
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