Samstag, 26. Oktober 2019

1563 Der Versager


Angeregt durch meine letzte Therapiesitzung bin ich wieder darauf gestoßen, daß ich mit fünfzehn Jahren ein Tagebuch zu schreiben angefangen habe. Ich hab das Büchlein – diese typischen Tagebücher für junge Mädchen mit Verschluß, der leicht aufzubrechen ist, und Schlüsselchen – schon lange nicht mehr, aber ich kann mich noch an einen Satz ziemlich am Anfang erinnern. „Mir wurden Grüße ausgerichtet!“ Und daran sehr genau, daß ich recht bald eine ganze Seite mit dem Satz „Ich bin ein Versager“ vollgeschrieben habe. Eine ganze Seite. Damit habe ich nur das Mantra wiedergegeben, daß ich fünfzehn Jahre lang gehört und gesehen hatte – gehört ganz normal die Aussagen meiner Eltern und anderer; gesehen an deren Mimik, Gestik und so weiter. Wir haben jetzt vermutlich ziemlich genau das Fünfzig-Jahre-Jubiläum dieses Eintrags zu feiern und – wie schon gesagt, angeregt durch die gestrige Therapiesitzung habe ich mich zum ersten Mal gefragt, was „Versager“ eigentlich bedeutet, und vorallem: welchen etymologischen Hintergrund hat dieses Wort, oder anders: warum ver-sagen? Was hat das mit sagen zu tun?

Laut Wikipedia bezeichnet Versager „als Schimpfwort einen Minderleister“ oder – in der Sprengtechnik - „einen nicht explodierten Sprengzünder oder eine nicht explodierte Schlagpatrone“. So viel kann ich schon verraten, daß mir die zweite Definition als sehr aufschlußreich vorkommt.
Aber schauen wir zunächst noch auf das Wort „versagen“. Ich schlage auf Anhieb mein etymologisches Wörterbuch eine Seite neben der gesuchten auf, aber dort steht kein „versagen“ (vielleicht ist das eines). DWDS, der deutsche Wortschatz von 1600 bis heute (www.dwds.de) kennt folgende Bedeutungen: 1 „etwas verweigern“: A „etwas verweigern“; „der Arzt versagte (=verbot) ihm jegliche Ausschweifung“. B „sich etwas nicht zugestehen, auf etwas verzichten“; „er versagte sich [Dativ] weitere Fragen zu stellen“. C „gehoben sich jemandem nicht hingeben zu (geschlechtlichem) Verkehr.“; „sie hat sich ihm stets versagt.“  2 „nicht das Erwartete leisten“:  A „an einer Aufgabe scheitern“; „er hatte körperlich und geistig völlig versagt“.  B „(etwas versagt) etwas funktioniert nicht“. „Der Motor, die Bremse versagte“. Die Etymologie, soweit sie sich mir erschlossen hat, gibt nicht viel her; ich weiß immer noch nicht, was „versagen“ mit „sagen“ zu tun hat.

Was auffällt im Sprachgebrauch: Versagerinnen gibt es nicht, das scheint demnach ein rein männliches Konzept zu sein. Ja, was solls: das ist ein rein männliches Konzept und betrifft nur Männer und Buben. Von ihnen wird Einiges erwartet. Die Gesellschaft, die Väter und vor allem die Mütter bauen auf ihre Söhne, haben Aufträge, Erwartungen, Vorstellungen für sie (so durfte ich als Sohn das Gymnasium besuchen, während meine begabten Schwestern das „nicht brauchen, weil sie dann eh heiraten werden“ - so meine Mutter (!).) Ist ein Versager ein Mann, der das Versprechen, die „Ansage“, die mit dem Nomen „Mann“ verknüpft ist (stark, dominant, beschützend) nicht erfüllt?

Für meine Lebensgeschichte paßt auch sehr gut „der nicht explodierte Sprengzünder“, weil ich sicherlich den Mutterauftrag hatte, meinen Vater, den meine Mutter verachtete, „wegzusprengen“, zumindest zu besiegen als Rächer der enttäuschten Mutter (ob zu recht oder unrecht enttäuscht ist eine ganz andere Frage).


Gestern habe ich noch – angeregt durch die letzte Therapiesitzung, wo wir auch freudsche Versprecher und Verschreiber („Kopf“ statt „Topf“ z.B. im vorigen Text) behandelt haben, wo sich also ein verdrängtes Wissen, ein verdrängter Sinn gegen Widerstand an die Oberfläche des Bewußtseins durchkämpfen will – eine neue „sinnanalytische“ Methode erfunden, für den Fall, daß man in der Deutung nicht weiterkommt: die „legasthenische Methode“, bei der man/frau mit Vertauschen und Verschieben einzelner Buchstaben herumspielt.

Und nach der „legasthenischen Methode“ ist das einfach so: „Versager“ - „Vergaser“. Womit wir bei der ererbten Schuld sind. Amen!











(26.10.2019)











©Peter Alois Rumpf,  Oktober 2019  peteraloisrumpf@gmail.com

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