1560 Der dritte Kondensstreifen
Lautlos unter dem gerade noch hellen, sonnenleeren Himmel
bewegen die Bäume da vorne im Hof ihre Zweige mit den übrig gebliebenen
Blättern dem Wind zuliebe und wiegen sich schon zur Nachtruhe hin. Nervöses
Zucken jedoch wandert gelegentlich noch durch die Kronen und ihren
dünnbeblätterten Randzonen und das schreckt sie nochmals auf, während es immer
dunkler wird.
Ein in rötlichem Weiß auftauchender Kondensstreifen schiebt
sein dunkelsilbriges Flugspielzeug quer über den Himmel.
Der dritte Kondensstreifen formt sich gerade zu einer
geheimnisvollen Schrift, die man schnell lesen müßte, denn das Universum hat
mit den Lesern seiner Botschaft keine Geduld und läßt die Schrift gleich wieder
verschwinden. Vielleicht ist es schon mehr als fünf vor zwölf und keine Zeit
mehr übrig? Aber was steht da (ist gestanden)? Mene, mene tekel upharsin?
Gewogen und zu leicht befunden? Diese Botschaft höre ich oft und sage sie mir
selber immer wieder vor. (Hier sitz ich und ich kann nicht anders.)
Jetzt rührt sich nichts. Gar nichts. Bevor allzu große
Feierlichkeit aufkommt, bellt ein Hund, durchaus zurückhaltend, und ein neuer
Windhauch kommt auf. Der Abend ist hereingebrochen. Der Tag und seine Chancen
sind vorbei. Alles wartet auf die Nacht, auf dieses andere Reich, das bald
seine vielversprechenden Möglichkeiten anbieten wird.
Ist es schon die Erwartung auf diese Nacht, die die Blätter
jetzt wieder vibrieren läßt? Die Bäume also auch?
Bei mir kommt Trauer, denn wenn ich es tagsüber nicht vors
Haus geschafft habe, schaffe ich es – meistens - erst recht nicht in die dunkle
Nacht hinaus.
(24.10.2019)
©Peter Alois Rumpf, Oktober 2019 peteraloisrumpf@gmail.com
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