1508 Voyeuristische Anwandllung
Ich sitze in einem meiner Lieblingsespressos und nach der
heute sehr ausführlichen Zeitungslektüre ohne erhoffte Sensation (wie sie mir
gefiele, zum Beispiel noch eine politische Bombe) ist mir etwas fad und mir
fällt nichts Rechtes ein (und wegen oben: auch nichts Linkes). Das jedoch auch,
weil ich meine voyeuristischen Anwandlungen verschweige.
Vier mittelmäßige Texte stehen schon zum Eintippen und dann
Schubladisieren an, aber ich mach es nicht. Keine Lust – das hat nichts bis
wenig mit der Mittelmäßigkeit zu tun, denn in meine Schublade kommen alle meine
Texte und Schreiben hellt mich immer auf. Beschriebe ich meine
yoyeuristischen Anwandlungen schonungslos, blühte ich auf und käme ins
Schwärmen und es gäbe genug zu lachen. Heute fehlt mir noch der Mut.
So spiele ich den nachdenklichen Denker, indem ich beim
Schreiben meinen Kopf mit der linken Hand an Stirn und Schläfe abstütze:
ernsthaft, überlegen, verständnisvoll, vorurteilsfrei und keinen Trieben oder
Kopfüberschwemmungen ausgeliefert.
Als Kompromiß mit mir selbst hole ich mir von der
Zeitschriftenablage eine vielversprechende Zeitschrift, die von sich sagt, daß
sie plastikfrei ist und „Lust & Leben“ heißt. Ich mache eine Schreibpause
und blättere die mir völlig unbekannte „Lust & Leben“ durch.
Gourmeezeitschrift mit vielen, vielen Photos von Speisen,
Getränken, Köchen, Winzern – für einen Viel- und Schnellesser und Alkoholfreien
wie mich nicht unbedingt das Richtige. Ein einziges Dekolletee.
Meine (mehr oder weniger) coole Nachdenklichkeitspose hat
sich jetzt, aufrecht sitzend, auf „dar ûf
satzt ich den ellenbogen; ich hete in mîne
hant gesmogen daz kinne und ein min wange. dô dâhte ich mir vil ange, wie man
zer werlte solte leben: deheinen rât kond ich gegeben, wie man driu dinc
erwurbe, der deheinez niht verdurbe.“ (W. v. d. Vw.) - also bei mir: die linke
Hand umfaßt von unten den rechten Ellenbogen und stützt so den rechten Unterarm
– der linke Unterarm horizontal im rechten Winkel zum rechten, dessen Hand das
Kinn von unten stützt – umgestellt. Blick geht nach vorne ins Leere
(Narrenkastl: hellblaue Wand, ein paar alte Photos, das größte zeigt einen
Fünfzigerjahre Perkussionisten in Anzug und Mascherl, Oberlippenbart;
Instrument: das, was man meistens Bongo nennt, aber keine ist. Richtiger Name
vergessen).
Nun betrachte ich das in der offenen Glastür gespiegelte
Theaterspiel der sich bewegenden Hände (österreichisch: inklusive Arme) will sagen:
ich sehe ein paar Gäste im Spiegel draußen im Johannisgarten (Jean – Schani)
sitzen und reden und gestikulieren. Und da ich sie aus dieser Entfernung nicht
hören kann, tue ich so, als wären die (Unter)Arme die Schauspieler und Tänzer,
die sich in einem exotischen, archaischen Theaterspiel bewegen und darstellen.
Der eine stellt so eine Art priesterliche Figur dar, indem
man ihn immer wieder kelchähnliche Gefäße heben sieht. Oh! Der andere
Schauspieler auch! Inbrünstig strecken sie sich selbst und ihre Kelche gen
Himmel, dann kippen sie die Kelche, dann stellen sie sie wieder zu Boden und
dann tanzen sie: springen hin und her und schütteln wie in Raserei und Wahn
ihre Köpfe (was sie da Hahnenkammartiges am Kopf tragen kann ich aus der
Entfernung und wegen der schwachen und kollagierenden Spiegelung im Glas nicht
recht erkennen) auf und nieder. Dann ruhen sie meist angespannt, dann beginnt
wieder die Kelchzeremonie, manchmal gleich zweimal hintereinander, manchmal die
zwei gegenüber synchron, manchmal abwechselnd. Ein interessantes Spiel! Auch
wenn ich nichts verstehe und mir der kulturelle Hintergrund gänzlich unbekannt
und fremd ist, finde ich das Spiel spannend und es berührt mich auf einer
tiefen, unterbewußten, ja, archetypischen Ebene. Manchmal treten noch zwei
weitere Darsteller auf, sodaß sie zwei zu zwei gegenüber stehen und tanzen oder
auch einer gegenüber zweien.
Manchmal ist dieses Drama fast erschütternd! Irgendsoein
riesiges Mondgesicht am Bühnenhimmel beginnt zu nicken; nickt lange, ausdauernd
und blickt so – ich weiß nicht, ob diese Geste Zustimmung, Ablehnung oder
Bestätigung oder „das ist das Schicksal“ bedeutet – blickt und nickt so ganz
lange auf das tanzende Bühnengeschehen hinab.
Jetzt ruhen die Kelche und ein Schauspieler legt sich flach
auf den Bühnenboden und hebt und bewegt nur ein wenig seinen – was weiß ich:
mit einer Federkrone? - geschmückten Kopf.
Sind es gar nur Marionetten?
(16.9.2019)
©Peter
Alois Rumpf, September 2019 peteraloisrumpf@gmail.com
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