Montag, 25. Februar 2019

1262 Thingsliberation


Ungefähr 1979/80 hatte ich eine alternative Zeitschrift namens „Humus“ gelesen. Ich interessierte mich damals vornehmlich für „abseitige“ Publikationen; je schräger, desto besser. Da paßte diese grün-alternative Zeitschrift im „Neon“-Design. Dort habe ich das erste Mal von „illegalem Gemüse“ gehört und von den Plänen der Konzerne, Pflanzen patentieren zu lassen. „Die spinnen“, dachte ich, „die übertreiben mit ihrem Antikapitalismus. Das kann es doch nicht geben!“

Außerdem gab es in dieser (vielleicht auch in einer anderen, ähnlichen Zeitschrift – lang, lang ist's her!) einen Artikel „Things-Liberation“. Frauen, Kinder, Völker, Tiere hatten wir schon, aber noch nichts über die Befreiung der Dinge. Meine Reaktion: „Jetzt spinnen sie endgültig!“ Aber ich war neugierig. Und der Autor (ich glaube, es war ein Mann) argumentierte nicht ungeschickt: was machst du, wenn dein Radio oder sonst ein Gerät nicht geht? Du klopfst drauf, wie bei einem Esel oder Pferd. Sinngemäß: also glaubst du unbewußt, sozusagen aus dem Hintergrund heraus, daß das Ding ein Wesen, eine Seele hat, irgendwie „lebt“ und auf dein appellatives Klopfen reagiert.
Das hat mir als Liebhaber des Absurden gefallen! (Wenn man mit der Welt nicht zurechtkommt, ist es psychisch leichter, sie für absurd zu halten – das nur nebenbei zu meiner pseudoexistentialistischen Absurditätsanbetung.) Alles andere im Artikel habe ich schon vergessen.

Nebenbei auch: Bei der Industrialisierung der Sowjetunion unter Stalin wurden viele Angehörige der vielen nomadischen Völker in dem riesigen Reich aus Tundra und Taiga als Arbeiter in Fabriken gesteckt und – auf die Modernität überhaupt nicht vorbereitet – schlugen viele mit Stöcken auf die Maschinen, wenn sie nicht funktionierten, wie sie es mit ihren Herden gewohnt waren umzugehen, und wurden dann wegen Sabotage erschossen.

Zurück zur Things-Liberation

Jetzt muß ich weit ausholen: wenn ich in meinem Zimmer zu Bett gehe, kommt meistens unsere Katze zu mir. Sie will kuscheln, gestreichelt werden, schnurren, bei mir liegen. Und dann wieder am Morgen, oft recht früh; wie oben, plus tatzeln; sie will mich aufwecken und wenn ich nicht weitertue unter sanftem Einsatz von Krallen. Sie muß mich aber schon sehr, sehr sekkiert haben, daß ich sie aus dem Bett werfe!

Manchmal schlafe ich jedoch auch unten, bei meiner Frau, im Ehebett, das bei unseren Kindern einmal „Papabett“ geheißen hat, weil ich damals noch kein eigenes Zimmer hatte und meine Frau, deren Namen ich hier nie nennen will, in unruhigen Nächten der noch kleinen Kinder sich öfters zu ihnen gelegt hatte.
Liege ich unten, kommt die Katze auch. Sie agiert vorsichtiger, dennoch habe ich ein wenig den Verdacht, daß sie ihren Platz an meiner Seite nicht aufgeben will. Aber meine Frau, resolut wie sie ist, schmeißt sie aus dem Bett wenn sie lästig ist, so schnell kann die Katze gar nicht schauen. Das Ganze hat natürlich einigermaßen heitere und absurde Züge, aber vor kurzem habe ich nachdenken müssen, warum ich selber immer so zurückhaltend und wenig resolut bin, und mit dem Tier (und und und …) - Mitgefühl? Mitleid? - soviel Mitleid habe.

Da ist mir dann eingefallen – und damit komme ich wieder zur Thingsliberation, daß ich mich vor einigen Tagen dabei ertappt habe …

Also das ist so: wir beherbergen in unserem Geschirregal eine Serie von kleinen Plastiktellern in verschiedenen Farben: rot, blau, grün, gelb, orange. Aus irgendeinem mir unbekannten Grund bevorzuge ich  - ansonsten nicht unbedingt ein Freund von Plastik - diese Teller als mein Frühstücksgeschirr. Aber ich mag nicht alle Farben gleich. Die blauen, roten und gelben Teller mag ich, die grünen und „orangenen“ nicht. Ich meine: es gibt kein Blau, das ich nicht mag (ästhetisch, nicht politisch!), rot ist auch relativ offen, gelb ist heikel, aber die gelben Plastikteller haben ein schönes, strahlendes Gelb. Grün gibt es auch viele, die ich mag, aber nicht alle; und gegen ein leuchtendes Orange hätte ich auch nichts einzuwenden, aber dieses Grün und dieses Orange mag ich nicht. Also verwende ich diese Teller nicht.

Letztens aber habe ich mich dabei ertappt, wie ich mich beim Zubereiten des Frühstücks bei den grünen und orangen Tellern entschuldige, daß ich sie beziehungsweise ihre Farben nicht mag. Ich habe tatsächlich zu ihnen geredet! Sie haben mir leid getan, wie sie so unbeachtet unten im Tellerstapel (wir stapeln Porzellan- und Plastikteller getrennt!) vernachlässigt werden und ihre Fähigkeiten, ihr Potential nicht einbringen und entfalten können.

Da sieht man wieder: Mitleid kommt vom Selbstmitleid: man sieht sich – in diesem Fall – im vernachlässigten und ungeliebten Teller! Im Gegensatz zum Mitgefühl, wo man das Gegenüber nicht mit sich verwechselt und es es sein läßt.

Tja, ich habe also wirklich mit den armen Tellern geredet. Oder kann man das Mitleid auch so sehen: ich halte es nicht aus, das ein Wesen oder Ding so behandelt wird, wie man selbst behandelt wurde? (oder glaubt, behandelt worden zu sein?) Thingsliberation wäre dann vielleicht, den Teller Teller sein zu lassen und nicht mit meinen Projektionen aufzuladen.

Könnte das nicht noch andere Dimensionen haben? Erfindergeist, Arbeit, Gestaltungswille, Energie steckt in jedem Ding. Und wenn man weiter geht: das Ausgangsmaterial wurde auf jeden Fall der Mutter Erde entnommen, steckt von ihr auch etwas in dem Ding? Ich meine: Gefühle, Intention etc.? Denn die Erde ist ja ein Lebewesen mit Bewußtsein, Wahrnehmung, Gefühlen und so.
Und die Kraftobjekte der sogenannten „Naturvölker“? Hat das nicht auch etwas für sich?
Und wenn ich an „meine“ Seher denke, die sagen, daß die Dinge unserer Wahrnehmung fast nur mehr aus unserer Beschreibung bestehen und lediglich aus ein paar Promille von dem Ding da draußen? Dann wäre „Thingsliberation“ wahrnehmen, wie die Dinge wirklich sind, ohne Beschreibung; also: „Sehen“! Hm?








(25.2.2019)









 ©Peter Alois Rumpf  Februar 2019  peteraloisrumpf@gmail.com

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