1262 Thingsliberation
Ungefähr 1979/80 hatte ich eine alternative Zeitschrift
namens „Humus“ gelesen. Ich interessierte mich damals vornehmlich für
„abseitige“ Publikationen; je schräger, desto besser. Da paßte diese
grün-alternative Zeitschrift im „Neon“-Design. Dort habe ich das erste Mal von
„illegalem Gemüse“ gehört und von den Plänen der Konzerne, Pflanzen patentieren
zu lassen. „Die spinnen“, dachte ich, „die übertreiben mit ihrem
Antikapitalismus. Das kann es doch nicht geben!“
Außerdem gab es in dieser (vielleicht auch in einer anderen,
ähnlichen Zeitschrift – lang, lang ist's her!) einen Artikel
„Things-Liberation“. Frauen, Kinder, Völker, Tiere hatten wir schon, aber noch
nichts über die Befreiung der Dinge. Meine Reaktion: „Jetzt spinnen sie
endgültig!“ Aber ich war neugierig. Und der Autor (ich glaube, es war ein Mann)
argumentierte nicht ungeschickt: was machst du, wenn dein Radio oder sonst ein
Gerät nicht geht? Du klopfst drauf, wie bei einem Esel oder Pferd. Sinngemäß:
also glaubst du unbewußt, sozusagen aus dem Hintergrund heraus, daß das Ding
ein Wesen, eine Seele hat, irgendwie „lebt“ und auf dein appellatives Klopfen
reagiert.
Das hat mir als Liebhaber des Absurden gefallen! (Wenn man
mit der Welt nicht zurechtkommt, ist es psychisch leichter, sie für absurd zu
halten – das nur nebenbei zu meiner pseudoexistentialistischen
Absurditätsanbetung.) Alles andere im Artikel habe ich schon vergessen.
Nebenbei auch: Bei der Industrialisierung der Sowjetunion
unter Stalin wurden viele Angehörige der vielen nomadischen Völker in dem
riesigen Reich aus Tundra und Taiga als Arbeiter in Fabriken gesteckt und – auf
die Modernität überhaupt nicht vorbereitet – schlugen viele mit Stöcken auf die
Maschinen, wenn sie nicht funktionierten, wie sie es mit ihren Herden gewohnt
waren umzugehen, und wurden dann wegen Sabotage erschossen.
Zurück zur Things-Liberation
Jetzt muß ich weit ausholen: wenn ich in meinem Zimmer zu
Bett gehe, kommt meistens unsere Katze zu mir. Sie will kuscheln, gestreichelt
werden, schnurren, bei mir liegen. Und dann wieder am Morgen, oft recht früh;
wie oben, plus tatzeln; sie will mich aufwecken und wenn ich nicht weitertue
unter sanftem Einsatz von Krallen. Sie muß mich aber schon sehr, sehr sekkiert
haben, daß ich sie aus dem Bett werfe!
Manchmal schlafe ich jedoch auch unten, bei meiner Frau, im
Ehebett, das bei unseren Kindern einmal „Papabett“ geheißen hat, weil ich
damals noch kein eigenes Zimmer hatte und meine Frau, deren Namen ich hier nie
nennen will, in unruhigen Nächten der noch kleinen Kinder sich öfters zu ihnen gelegt hatte.
Liege ich unten, kommt die Katze auch. Sie agiert
vorsichtiger, dennoch habe ich ein wenig den Verdacht, daß sie ihren
Platz an meiner Seite nicht aufgeben will. Aber meine Frau, resolut wie sie
ist, schmeißt sie aus dem Bett wenn sie lästig ist, so schnell kann die Katze
gar nicht schauen. Das Ganze hat natürlich einigermaßen heitere und absurde
Züge, aber vor kurzem habe ich nachdenken müssen, warum ich selber immer so
zurückhaltend und wenig resolut bin, und mit dem Tier (und und und …) -
Mitgefühl? Mitleid? - soviel Mitleid habe.
Da ist mir dann eingefallen – und damit komme ich wieder zur
Thingsliberation, daß ich mich vor einigen Tagen dabei ertappt habe …
Also das ist so: wir beherbergen in unserem Geschirregal
eine Serie von kleinen Plastiktellern in verschiedenen Farben: rot, blau, grün,
gelb, orange. Aus irgendeinem mir unbekannten Grund bevorzuge ich - ansonsten nicht unbedingt ein Freund von
Plastik - diese Teller als mein Frühstücksgeschirr. Aber ich mag nicht alle
Farben gleich. Die blauen, roten und gelben Teller mag ich, die grünen und
„orangenen“ nicht. Ich meine: es gibt kein Blau, das ich nicht mag (ästhetisch,
nicht politisch!), rot ist auch relativ offen, gelb ist heikel, aber die gelben
Plastikteller haben ein schönes, strahlendes Gelb. Grün gibt es auch viele, die
ich mag, aber nicht alle; und gegen ein leuchtendes Orange hätte ich auch
nichts einzuwenden, aber dieses Grün und dieses Orange mag ich
nicht. Also verwende ich diese Teller nicht.
Letztens aber habe ich mich dabei ertappt, wie ich mich beim
Zubereiten des Frühstücks bei den grünen und orangen Tellern entschuldige, daß
ich sie beziehungsweise ihre Farben nicht mag. Ich habe tatsächlich zu ihnen
geredet! Sie haben mir leid getan, wie sie so unbeachtet unten im Tellerstapel
(wir stapeln Porzellan- und Plastikteller getrennt!) vernachlässigt werden und
ihre Fähigkeiten, ihr Potential nicht einbringen und entfalten können.
Da sieht man wieder: Mitleid kommt vom Selbstmitleid: man
sieht sich – in diesem Fall – im vernachlässigten und ungeliebten Teller! Im
Gegensatz zum Mitgefühl, wo man das Gegenüber nicht mit sich verwechselt und es
es sein läßt.
Tja, ich habe also wirklich mit den armen Tellern geredet.
Oder kann man das Mitleid auch so sehen: ich halte es nicht aus, das ein Wesen
oder Ding so behandelt wird, wie man selbst behandelt wurde? (oder glaubt,
behandelt worden zu sein?) Thingsliberation wäre dann vielleicht, den Teller
Teller sein zu lassen und nicht mit meinen Projektionen aufzuladen.
Könnte das nicht noch andere Dimensionen haben?
Erfindergeist, Arbeit, Gestaltungswille, Energie steckt in jedem Ding. Und wenn
man weiter geht: das Ausgangsmaterial wurde auf jeden Fall der Mutter Erde
entnommen, steckt von ihr auch etwas in dem Ding? Ich meine: Gefühle, Intention
etc.? Denn die Erde ist ja ein Lebewesen mit Bewußtsein, Wahrnehmung, Gefühlen
und so.
Und die Kraftobjekte der sogenannten „Naturvölker“? Hat das
nicht auch etwas für sich?
Und wenn ich an „meine“ Seher denke, die sagen, daß die
Dinge unserer Wahrnehmung fast nur mehr aus unserer Beschreibung bestehen und
lediglich aus ein paar Promille von dem Ding da draußen? Dann wäre
„Thingsliberation“ wahrnehmen, wie die Dinge wirklich sind, ohne Beschreibung;
also: „Sehen“! Hm?
(25.2.2019)
©Peter Alois Rumpf Februar 2019
peteraloisrumpf@gmail.com
0 Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Abonnieren Kommentare zum Post [Atom]
<< Startseite