1253 Kleiner Essay über die Serviette
In irgendeiner mönchischen Benimmregel aus alten Zeiten –
ich weiß nicht, aus welchem Jahrhundert – meine zugegeben nicht sehr eifrige Internetrecherche
hat nichts ergeben – heißt es, die Brüder mögen sich beim Essen nicht in die
Ärmel ihrer Kutten schneuzen und darin auch nicht ihren Mund abwischen, dafür
sei ja das Tischtuch da.
Damals offensichtlich eine neue Errungenschaft.
Man wird nicht leugnen können, daß sich die Regeln seitdem
weiter entwickelt haben, und nicht nur in Klöstern, sondern auch in
bürgerlichen Haushalten und der Gastronomie. Sicher, es gibt auch heute noch
nicht so sehr territoriale, sondern eher kategoriale Reservate archaiischerer
Umgangsformen. So kann man zum Beispiel bei Fußballspielen auch im Fernsehen
manchmal noch das „steirische Schneuzen“ bewundern; das heißt: ein Nasenloch
zuhalten und den Rotz durchs andere, offene auf den Rasen blasen; dann ein
Seitenwechsel. Ganz große Rasenkünstler benutzen beide Löcher gleichzeitig.
Ich würd' ja gern wissen, auf welchem Weg sich das
„steirisch Schneuzen“ so in der ganzen Welt verbreiten konnte und ob die
Anwender noch wissen, woher diese Technik kommt! (Wenn es in seriösen Texten
erlaubt wäre, würde ich jetzt ein zwinkerndes Smiley an diese Stelle setzen,
aber leider! Das ließe kein Lektor durchgehen.)
Aber zurück zu den Tischsitten. Offensichtlich gibt es die
Tendenz in der Kulturentwicklung, Schneuzen und Mundabwischen zu trennen. Ganz
sind wir mit der Trennung von Nase und Mund noch nicht durch, aber der Trend
ist deutlich. Denn zumindest bei Tisch wischt man sich den Mund mit der
Serviette ab, während man sich ins Taschentuch schneuzt. Das Tischtuch,
geschweige denn die Ärmel, sind definitiv draußen und würden – vielleicht außer
in Notsituationen – bei ihrer Verwendung Empörung auslösen. Freilich wird
dadurch alles komplizierter, manierierter und feiner. (vgl. dazu den im vorigen
Jahrhundert noch verbreiteten Spruch: „Der Bauer ist keck, der schmeißt des
Rotz weg! Der Städter ist fein, der steckt des Rotz ein.“)
Auch heute befinden wir uns – was die Serviettenbenützung
betrifft – in einer kulturellen Umbruchsphase. Zumindest bei festlichen
Anlässen wird die Serviettenfaltung und -gestaltung ästhetisch und optisch so
aufgewertet, aufwändig und wichtig, daß Leute wie ich sich die Serviette gar nicht
mehr zum Mundabwichen benützen trauen; so in dem Sinn: „Was!? In so ein
Kunstwerk soll ich meine Goschen abwischen? Das geht nicht! Das wäre ja schade,
das Kunstwerk zu zerlegen!“ (Und die Hochsensiblen spüren das als erste!)
Das ist die einzige eindeutige Prognose, die ich
aufzustellen wage: es wird nicht mehr allzu lange dauern, bis auch die
Serviette fürs Mundabwischen tabu ist, genau so wie es das Tischtuch geworden
ist und vorher der Ärmel.
Aber wie wird die Entwicklung weitergehen? Welche
Gestalt und Form wird sich ergeben? Wieder zurück zum Tischtuch halte ich für
ausgeschlossen. Ja, die zukünftige kulturelle Gestalt und Form des Rituals des
Mundabwischens bei feierlichen Anlässen ist – zumindest für mich – nicht
absehbar.
Zwar habe ich mich selber schon dabei ertappt, wie ich vor
lauter Scheu, das Serviettenkunstwerk zu zerlegen, zwar unsicher und verschämt,
aber doch heimlich mein Taschentuch unauffällig herausgezogen und darin meinen
Mund abgewischt habe.
In diesem Rückschritt ins Zusammenfallen von Mund- und
Nasenhygiene – so bin ich überzeugt – nimmt die Kultur lediglich Anlauf, um die
große Kraft und den benötigten Schwung mitzunehmen, die neue kulturelle Gestalt
zu gebären. Die Kultur regrediert, weil sie nicht weiß, wie es weitergehen
kann. Soetwas passiert kurz vor dem Durchbruch. Jeder, jede kennt das: man/frau
weiß nicht weiter, tritt dann einen Schritt zurück und dann geht’s.
Ich bin sehr gespannt, wie nach diesem gewaltigen Anlauf die
Lösung der Mundhygiene bei festlichen Ritualen ausschauen wird. Wird zwischen
Dekorationsserviette und Abwischserviette unterschieden werden?
Und weil ich vorhin das steirische Schneuzen erwähnt habe,
noch ein Spruch zum Themenkreis „steirisch“:
„a jeds
g'waund, wos a steira trog(t), is a steirag'waund!“ (Man verzeihe bitte
die schlechte Transskription.)
Aber Danke für Ihre Aufmerksamkeit!
(14.2.2019)
©Peter Alois Rumpf Februar 2019
peteraloisrumpf@gmail.com
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