Montag, 28. Mai 2018

959 Endlich Landschaft


Das Rad der Zeit dreht sich und bietet, wenn man mitfährt, schöne Aussichten. Ich fahr nicht mit im Kreis; ich sitze im Zug und habe ein Ziel. Zugegeben: alle, oder fast alle Ziele sind fragwürdig. Na und?! Ich frage: Ziel, bist du würdig? Das frage ich gar nicht im Ernst; es ist mir ziemlich egal. Auch, wenn man hier freundlich kontrolliert wird: angeblich ist der Weg das Ziel (dann könnte man auch mit dem Riesenrad fahren). Die russisch-orthodoxe Kathedrale fliegt vorbei. Wehmütig … ach was! So gut war meine Singerei auch wieder nicht.

Ich renn nicht weg. Wir fahren hauptsächlich unterirdisch oder in tiefen Spalten; ich freue mich schon, wenn wir an die Oberfläche kommen.
Jetzt! Viele Essigbäume an den den Geleisen entlanglaufenden Rainen. Das heißt: wir sind noch im Stadtgebiet. Wir halten im – nur dem Namen nach – romanischen Gebiet; Ausgrabungen gibt es hier keine, weil hier nichts romanisches in der Erde liegt.

Der Hund hechelt. Er ist nicht mein Hund. Ich habe keine Hunde. Vor Hunden hatte ich meistens Angst – sie sind meistens mental (wie man so sagt) stärker als ich.
Der junge Mann hängt seinen Anzug auf. Er ist sehr bedacht auf seine Verkleidung, weil sie gebügelt ist. Ich selber trage fast nie, aber sehr gerne Anzüge. Wäre ich wohlhabend, würde ich fast ausschließlich, bevorzugt dreiteilige Anzüge tragen und sie dabei ein wenig oder ein wenig mehr verschlampen lassen (ausgebeulte Taschen, verknittert etc.). Jetzt trage ich „gar nichts“! Also eine Jean, und ein T-Shirt, wo „Gar nichts!“ draufsteht, plus Unterhose und Socken und Halbschuhe und eine Sturmuhr und und eine dünne Schnur um den Hals mit einem griechischen Tau-förmigen Kreuz, einem Psylocibe-Stein und einem billigen Medaillon mit der aphroditischen Heiligen Maria rücksichtslos nebeneinander aufgefädelt.

Wieder unterirdisch. Ich höre Andachtsmusik (Omar Rodriguez Lopez Group Live Los Angeles (WIP) II); andächtig wie der Andachtsjodler.

Jetzt! Endlich Landschaft. Hinter den Lärmschutzwänden und den Dämmen – Gras, Gebüsch, Bäume – links und rechts der Geleise. Von der Landschaft kann man (ich) nur die oberen Drittel einiger Strommasten, ein paar Baumwipfel oder deren Spitzen und ab und zu eine Hügelkuppe sehen. Ah! Rechts war der Blick kurz frei: eine locker mit Bäumen bestandene leicht hügelige Ebene mit schönen, hellen Wolkenwülsten am Rand. Ich greife mir ins Haar meiner haupt-sächlichen Glatze, „als gäbe es dort Gedanken zu holen“, wie Herta Müller beschreibt. Aber mehr als ein paar Schuppen fallen nicht heraus und auch nicht wie von den Augen.

Jetzt sieht man links eine sanfte, liebliche Hügellandschaft, weit und abwechslungsreich, mit schönen Wolkenwülsten am Rand. Im Ohr singt inzwischen John Frusciante „Life is a funny game“. Kleine Wolkenfetzen ziehen erstaunlich schnell dahin. (Kritisierst du auch, daß ich mich im Text nicht wirklich ausdrücke? Daß ich  - so gesehen – nicht vorkomme, obwohl ich ständig „ich“ schreibe? Oder umgekehrt: daß ich dauernd im Text vorkomme?)

Nun sieht man schon seit zwanzig Minuten nicht aus.

Einzelne Bäume hinter einem Getreidefeld. Bei mir ein rätselhaftes Sehnsuchtsbild, weil ich nicht weiß, worum es dabei geht. Keine Ahnung, was das mit meinem Leben zu tun hat; ich bin in einer gebirgigen Gegend aufgewachsen. Milchwirtschaft.

John Frusciante singt: „You dont throw your life away going inside“.







(26.5.2018)













©Peter Alois Rumpf    Mai 2018     peteraloisrumpf@gmail.com

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