959 Endlich Landschaft
Das Rad der Zeit dreht sich und bietet, wenn man mitfährt,
schöne Aussichten. Ich fahr nicht mit im Kreis; ich sitze im Zug und habe ein
Ziel. Zugegeben: alle, oder fast alle Ziele sind fragwürdig. Na und?! Ich
frage: Ziel, bist du würdig? Das frage ich gar nicht im Ernst; es ist mir
ziemlich egal. Auch, wenn man hier freundlich kontrolliert wird: angeblich ist
der Weg das Ziel (dann könnte man auch mit dem Riesenrad fahren). Die
russisch-orthodoxe Kathedrale fliegt vorbei. Wehmütig … ach was! So gut war
meine Singerei auch wieder nicht.
Ich renn nicht weg. Wir fahren hauptsächlich unterirdisch
oder in tiefen Spalten; ich freue mich schon, wenn wir an die Oberfläche
kommen.
Jetzt! Viele Essigbäume an den den Geleisen entlanglaufenden
Rainen. Das heißt: wir sind noch im Stadtgebiet. Wir halten im – nur dem Namen
nach – romanischen Gebiet; Ausgrabungen gibt es hier keine, weil hier nichts
romanisches in der Erde liegt.
Der Hund hechelt. Er ist nicht mein Hund. Ich habe keine
Hunde. Vor Hunden hatte ich meistens Angst – sie sind meistens mental (wie man
so sagt) stärker als ich.
Der junge Mann hängt seinen Anzug auf. Er ist sehr bedacht
auf seine Verkleidung, weil sie gebügelt ist. Ich selber trage fast nie, aber
sehr gerne Anzüge. Wäre ich wohlhabend, würde ich fast ausschließlich,
bevorzugt dreiteilige Anzüge tragen und sie dabei ein wenig oder ein wenig mehr
verschlampen lassen (ausgebeulte Taschen, verknittert etc.). Jetzt trage ich
„gar nichts“! Also eine Jean, und ein T-Shirt, wo „Gar nichts!“ draufsteht,
plus Unterhose und Socken und Halbschuhe und eine Sturmuhr und und eine dünne
Schnur um den Hals mit einem griechischen Tau-förmigen Kreuz, einem Psylocibe-Stein
und einem billigen Medaillon mit der aphroditischen Heiligen Maria
rücksichtslos nebeneinander aufgefädelt.
Wieder unterirdisch. Ich höre Andachtsmusik (Omar Rodriguez
Lopez Group Live Los Angeles (WIP) II); andächtig wie der Andachtsjodler.
Jetzt! Endlich Landschaft. Hinter den Lärmschutzwänden und
den Dämmen – Gras, Gebüsch, Bäume – links und rechts der Geleise. Von der
Landschaft kann man (ich) nur die oberen Drittel einiger Strommasten, ein paar
Baumwipfel oder deren Spitzen und ab und zu eine Hügelkuppe sehen. Ah! Rechts
war der Blick kurz frei: eine locker mit Bäumen bestandene leicht hügelige
Ebene mit schönen, hellen Wolkenwülsten am Rand. Ich greife mir ins Haar meiner
haupt-sächlichen Glatze, „als gäbe es dort Gedanken zu holen“, wie Herta Müller
beschreibt. Aber mehr als ein paar Schuppen fallen nicht heraus und auch nicht
wie von den Augen.
Jetzt sieht man links eine sanfte, liebliche
Hügellandschaft, weit und abwechslungsreich, mit schönen Wolkenwülsten am Rand.
Im Ohr singt inzwischen John
Frusciante „Life is a funny game“. Kleine Wolkenfetzen ziehen
erstaunlich schnell dahin. (Kritisierst du auch, daß ich mich im Text nicht
wirklich ausdrücke? Daß ich - so gesehen
– nicht vorkomme, obwohl ich ständig „ich“ schreibe? Oder umgekehrt: daß ich
dauernd im Text vorkomme?)
Nun sieht man schon seit zwanzig Minuten nicht aus.
Einzelne Bäume hinter einem Getreidefeld. Bei mir ein
rätselhaftes Sehnsuchtsbild, weil ich nicht weiß, worum es dabei geht. Keine
Ahnung, was das mit meinem Leben zu tun hat; ich bin in einer gebirgigen Gegend
aufgewachsen. Milchwirtschaft.
John
Frusciante singt: „You dont throw your life away going inside“.
(26.5.2018)
©Peter Alois Rumpf Mai
2018 peteraloisrumpf@gmail.com
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