589 Dr. Strauch
oder wenn ein nicht-dualer Mensch lebenstüchtig und schlau
sein will
oder mein stiller Verrat.
Das ist keine Geschichte über einen Arzt. Ich erzähle aus
meinem Leben.
Wie alt ich war, weiß ich nicht mehr genau; ich schätze, so
um die Fünfzehn. In der Schule hatte ich gerade eine schwere Krise. Meine
masochistische Art zu lernen hat mir folgerichtig viele Mißerfolge beschert. In
Latein zum Beispiel schrieb ich einen Fünfer nach dem anderen. Ich war beim
Lernen zu verbissen, zu sehr von Angst gelähmt; ich konnte nicht spielerisch,
frei, interessiert und unbefangen an den Stoff herangehen. Ich lernte viel,
jedoch wirklich so, wie um mir zu beweisen, daß ich ein Versager bin –
aufwendig, aber wörtlich sinn-los.
Also bekam ich in Latein Nachhilfe. In unserer Siedlung
wohnten auch viele Professoren der höheren Lehranstalt für Landwirtschaft
Raumberg, an der viele Söhne aus dem bäuerlichen Milieu im Internat wohnten,
eine entsprechend auf Landwirtschaft ausgerichtete Ausbildung erhielten und mir
Matura abschließen konnten. Dort unterrichtete auch Dr. Strauch. Bei ihm bekam
ich Lateinnachhilfe. Er war – wie ich in unseren Gesprächen herausfand – ein
reformorientierter Mensch; er erzählte von seiner Auffassung, die Gymnasien von
den alten Bildungsvorstellungen und Bildungsinhalten zu entrümpeln und im
Deutschunterricht die Sprachnormen mehr der wirklich gesprochenen
Alltagssprache anzunähern. Er lobte die damaligen Reformversuche zur
Chancengleichheit des Unterrichtsministers (vielleicht war ich doch schon
älter!).
Ich war als leidenschaftlicher Musikboxhörer schon mit
solchen Ideen bekannt, aber nur aus der Ferne, in meiner alltäglichen
Wirklichkeit war ich von ganz anderen Werthaltungen und Lebensmodellen umgeben.
So hatte das Gymnasium, das ich besuchte – und das in meinen ersten Jahren dort
noch als Privatschule geführt wurde – noch Züge aus dem 19. Jahrhundert. Das
war dann zur Zeit meiner Geschichte schon alles im Umbruch (wir wurden in der
Oberstufe nicht mehr wie noch der Jahrgang vor uns gesiezt), aber es wehte noch
dieser Wind und wir mußten uns zum Teil noch mit sehr strengen, beschimpfenden,
manchmal handgreiflich werdenden Lehrern herumschlagen. In dieser Situation war
ich als braver, gehorsamer Schüler tief im alten autoritären System verankert,
aber gleichzeitig von diesen neuen Ideen – ich betone wieder: Musicbox! -
fasziniert. Meine Haltung war ganz ambivalent, hin und her gerissen zwischen
„das kann man nicht machen!“ und „whow!“, zwischen Loyalität zu und „Verrat“ an
den Autoritäten.
Dieser Dr. Strauch war also für mich der erste leibhaftige
Vertreter dieser neuen Richtung in so einer Position. Man, oder frau darf sich
keine Illusionen machen – der wird schon auch ein Patriarch gewesen sein; so
kam einmal seine Frau zu uns und bat meine Mutter, ihr heute unsere
Tageszeitung zu überlassen, weil sie vergessen hatte, sie für ihren Mann zu
besorgen, und weil ihr Mann deswegen dann sehr ungehalten werden würde. Meine Mutter konnte auch nicht nein sagen und so gab sie ihr die Zeitung; mir war
das nicht recht, denn auch ich hatte mir angewöhnt, nach der Schule in der
Zeitung zu blättern.
Ich ging also zu Dr. Strauch in die Lateinnachhilfe. Eine
kleine Episode sei noch eingefügt, bevor ich zur eigentlichen Geschichte
komme. Einmal, als ich zu Dr. Strauch ins Nachbarhaus gehe, hatte er an seinem
Arbeitsort in Raumberg, ein paar Kilometer von uns entfernt, irgendetwas
vergessen und er bat mich – um nicht zu sagen, er schaffte es mir an – mit dem
Rad schnell hinzufahren und es zu holen. Gehorsam wie ich war trat ich die
kurze Reise an – meine Mutter bekam das vom Fenster aus mit, fragte mich dann
nachher aus und wurde über mich ungehalten, weil ich mich vom Lernen ablenken
ließ und nicht auf die Einhaltung der Nachhilfestunde bestanden hatte. Das warf
sie mir dann vor – ich aber radelte brav die steile Straße nach Raumberg hinauf
und brachte das Gewünschte meinem Nachhilfelehrer. Beim Radfahren war ich ins
Schwitzen geraten, aber dann, beim Lateinlernen und Übersetzen, gleich viel
besser als sonst, weil ich viel lockerer und beweglicher und erfrischter war.
Eigentlich hätte ich da kapieren können, daß mir mein dumpfes Lernen und Brüten
nicht gut tut – ich glaube, ich hatte es sogar kapiert – aber meine angewöhnte
Selbstverhinderung war stärker und ich hatte mein Verhalten nicht geändert.
Jedenfalls, einmal, vor einer Schularbeit, gibt mit Dr.
Strauch einen Text zu übersetzen und mir fällt auf, daß mir viele Vokabel
bekannt vorkommen, denn genau die sind wir in der Schule am Vormittag im
Lateinunterricht im Hinblick auf die anstehende Schularbeit durchgegangen.
Nun ist zu sagen, daß unser Lateinprofessor – auch einer der
alten Schule, wenn ich heute auch sagen würde, er hat diese Rolle eher wie ein
Komödiant gespielt, was nichts daran ändert, daß er für uns streng, autoritär
war, beschimpfend und wir seinen Urteile ausgeliefert waren – daß dieser
Professor nie Stellen zur Schularbeit gegeben hat, die in unseren Textausgaben
vorkamen, sodaß es auch keine Schmiererübersetzungen davon gab.
Nur dieses eine Mal hielt er sich nicht an sein Prinzip und
wirklich, mein Nachhilfelehrer hatte zufällig die Schularbeitsstelle erwischt.
Ich holte das Schulübungsheft aus der Tasche, wir verglichen die Vokabel und
damit war die Sache klar.
Dr. Strauch bläute mir ein, das ja nicht meinen
KlassenkollegInnen zu verraten; das würde meinen Vorteil vernichten und es
könnte Verdacht aufkommen und die Schularbeit wiederholt werden.
Ich muß sagen, daß mir als passiv-autoritärer Charakter (Ich
nehme Bezeichnungen nicht immer so ganz ernst) und frommer Schüler das
Schwindeln sowieso immer unangenehm war – und zwar sowohl als einer, dem mit
Schwindeln geholfen wird, als auch wenn ich selber anderen mit Schwindeln helfen sollte.
Manchmal, bei mündlichen Prüfungen (aber nicht immer) überhörte ich bewußt
helfende Einflüsterungen, und umgekehrt, wenn ich helfen sollte, war es mir
immer unangenehm, und ich hätte lieber „das tut man nicht!“ gesagt, aber da
ich nicht nein sagen konnte, tat ich doch manchmal mit – also habe ich mich
irgendwie unsauber durchmanövriert. Ich hätte mich eindeutig in einem Umfeld
mit klarer Moral wohler gefühlt, wo soetwas – wie in anderen Kulturen – auch
bei den Schülern verpönt ist; die österreichische Haltung – offiziell ist es
verboten, unter der Hand wird es geduldet, wenn nicht erwartet – hat mich immer
sehr verwirrt. Und mir ist es lieber, wenn jeder individuell für seine Sachen einstehen muß, als wenn man in so eine undurchsichtige Kollektivität gezogen wird.
Ja und hier an dieser Stelle steige ich auf den Vorschlag
meines Nachhilfelehrers bewußt und in eigener Verantwortung ein und halte den
Mund.
Am Tag der Schularbeit kommt ein Klassenkollege aufgeregt in
die Klasse und verkündet: „ich habe die Schularbeitsstelle gefunden!“ Große
Aufregung. Den Schmierer hat er auch mitgehabt. Große Hektik. Ich hielt mich
abseits, sagte nichts.
Damit es nicht zu auffällig wird, vereinbarte die Klasse,
daß manche ein paar Fehler einbauen, alles wurde klug ausgetüftelt. Es war
genug Zeit bis zur Schularbeitsstunde.
Wie gesagt, ich hielt mich abseits.
Dann kam die Schularbeit. Ich schrieb ruhig und souverän
meinen vertrauten Text hin. Aber natürlich blieb die große Unsicherheit – wird
die ganze Sache auffliegen?
Am Nachmittag redete ich mit meinem Nachhilfelehrer und
erzählte alles. Er meinte, ich hätte schnell eine andere Textstelle nehmen und
behaupten sollen, ich hätte die richtige gefunden, um die Klasse zu verwirren
und ihr die Zeit fürs Auswendiglernen der Übersetzung zu rauben. Zu einer
solchen Intrige wäre ich – im Gegensatz zu manch anderen, wie sich Jahre später
herausstellte – nicht fähig gewesen; Ich rede nicht von Moral, aber da wäre ich
nicht schlagfertig und einfallsreich genug, nicht abgebrüht genug gewesen.
Stiller Verrat, Mundhalten – das geht.
Die Schularbeit wurde nicht wiederholt. Manche hatten sich
zu viele Fehler eingebaut; es gab Fünfer; das Ergebnis war nicht besonders
auffällig.
Ich hatte auch einen unabsichtlichen Fehler – da hatte Dr.
Strauch schlecht übersetzt – und ich bekam trotzdem die Note Eins. Mein
Fünferbann war gebrochen und die nächsten Schularbeiten schrieb ich Dreier.
Ich ahnte, daß mein Lateinprofessor gemerkt hatte, daß ich
die Stelle kannte und Jahre später, bei einem Klassentreffen, hat er es mir
bestätigt, wie auch, daß ihm die ganze Tragikomödie nicht entgangen war. Ich
habe damals die Geschichte meines stillen Verrates offen vor allen
Klassenkollegen erzählt.
Gute 10, 12 Jahre später. Ich laufe als autodidaktisch
malender und zeichnender Künstler herum und weiß nicht recht, wie ich mich in
der Szene behaupten und durchsetzen soll, glaube aber unbedingt, daß ich etwas
für meine Karriere unternehmen müßte. Aber was? Wo hingehen? An wen mich
wenden?
Dr. Strauch! Dr. Strauch ist inzwischen zum Berater eines
Regierungsmitgliedes aufgestiegen und ist auch in einem Ressort tätig gewesen, das mit Kunst zu tun hatte.
Noch In Irdning war mir das Gerücht zu Ohren gekommen, daß er selber schreibe
und Lesungen abhalte, und zwar in der Disko Whomwhom.
Nun wurde es zur fixen Idee. Ich wende mich an Dr. Strauch,
er werde mir weiterhelfen können. Die Idee war gar nicht so abwegig, wie sie
klingt, denn Jahre später habe ich mitbekommen, daß Dr. Strauch sehr gute
Kontakte zu einem wichtigen New Yorker Galeristen hatte, aber trotzdem, in
meiner Lebenssituation damals, mit meiner Aura, war sie ziemlich absurd. Eine
fixe Idee, die mehr mit passiv-autoritären Erlöserphantasien zu tun hatte, als
mit geschicktem, strategisch durchdachtem Marketing oder Karrierearbeit. So
konzentrierte sich meine fixe Idee nur darauf, Dr. Strauch zu begegnen, dann
wäre schon alles geritzt und ich hatte mir daher nichts zurechtgelegt, wie ich
dann agieren könnte.
Aber wie die Begegnung herbeiführen? Tief in meinem
magischen Weltbild verankert meinte ich, die Begegnung nur magisch herbeiführen
zu können, so, daß es wie eine zufällige Begegnung ausschaut.
Gut. Ich schaue im Telefonbuch nach, wo Dr. Strauch wohnt.
(Internet gab es noch nicht.) Ich fahre mit der Straßenbahn hin, finde das
Haus, umkreise zu Fuß das Haus mehrmals und fahre wieder zurück. Die Idee war,
daß ich durch das Umkreisen des Hauses eine Energiespur hinterlasse, die Dr.
Strauch irgendwann zwangsläufig überschreiten muß und daß dabei meine Energie
mit seiner in Kontakt kommen und sie eine Verbindung herstellen und so vielleicht
eine zufällige Begegnung herbeiführen.
Ich glaube mich zu erinnern, daß ich noch ein zweitesmal
hingefahren bin und das Haus unauffällig umkreist habe, mit einer Tasche unter
dem Arm, um wie irgendein Vertreter zu wirken, der da irgendetwas zu erledigen
hat. Gleichzeitig hatte ich das ständige Mantra laufen, „Wenn ich Dr. Strauch
begegne, dann ...“
An einem faden Sonntag bin ich mit meiner damaligen
Lebensgefährtin auf der Mariahilferstraße spazieren gegangen; das Ganze war
mehr ein Versuch, irgendwelchen unerträglichen Beziehungsfrustrationen zu
entkommen, wo wir sonst nichts mehr gefunden hatten, mit dem wir uns davon
ablenken konnten.
Wir schlendern so dahin, dann sehe ich – da vorne – Dr.
Strauch mit seiner Familie! Ich erstarre und bekomme den Tunnelblick – dort ist
meine Erlösung!
Ich bitte meine Freundin, da stehen zu bleiben und gehe auf
Dr. Strauch zu und spreche ihn an. Wirklich – mit Tunnelblick; am Rande meines
Gesichtsfeldes wurde alles grau.
Die Tatsache, daß er sich nicht an mich erinnerte oder
erinnern wollte, kann mich nicht abhalten. Ich erinnere ihn an seine Irdninger
Zeit, daß wir Nachbarn waren und ich bei ihm Lateinnachhilfe hatte. Es war ihm
sichtlich unangenehm, er war ausweichend, er muß die ganze Wucht meiner irren
Erwartungen gespürt haben, dieses ganze Fixiert-Sein auf ihn, denn er ist immer
ausgewichen und hat versucht, sich so zu stellen, daß er etwas seitlich von mir
war, aber ich habe mich immer zu ihm hingedreht. (Vielleicht hat er auch ein
Attentat befürchtet, ein anders, als ich im Sinn hatte.) Er wollte sich nicht
erinnern, seine Frau hat sich zu erinnern begonnen, aber sie habe ich –
strategisch sehr dumm – nicht weiter beachtet. (Dabei hatte ich ihr von unserem
Kinderzimmerfenster aus, wenn sie sich über den Kinderwagen gebeugt hat, immer
in ihren Ausschnitt gegafft! Ihr Hauseingang war gleich gegenüber.)
Nur die Sache mit der Lateinnachhilfe hat ihn ein „Das habe
ich mich damals getraut, Lateinnachhilfe zu geben?“ entlockt.
Ein paar Worte noch, daß ich jetzt Künstler sei, und da mit
meiner Freundin dort gerade zufällig spazieren ginge.
Sonst ist mir nichts mehr eingefallen. Er hat nicht gesagt:
„Ah, Künstler! Interessant! Was machen Sie? Zeigen Sie mir einmal ihre
Arbeiten!“
Hat er nicht, und damit war ich am Ende mit meinem Latein.
Wie immer bei solchen Geschichten mußte ich später darüber
lachen, wie absurd es wird, wenn ein nicht-dualer Mensch wie ich bei den
dualen, lebensschlauen Spielchen mitspielen will. Es funktioniert einfach
nicht, obwohl mein magischer Einsatz schon toll war; auch vom Ergebnis der Herbeiführung der Begegnung her.
(31.1.2017)
©Peter Alois Rumpf Jänner
2017 peteraloisrumpf@gmail.com
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