Montag, 13. Mai 2024

3654 Die Mauer vor mir

 



11:27 a.m. Die Mauer vor mir: ziegelrot und hellgrau, dunkelgrau bis bläulichgrau und ein paar ockerne Steine mit rotgelben Einsprengseln. Diese kleine Gruppe von großen Linden, die so ungefähr im Kreis stehen und die kurzgemähte Wiese zwischen den Steinmauern, zirka fünf Meter breit (schlecht geschätzt: zirka 14 Meter breit! - der Korrektor). Ich nehme hier im Schatten meine Kappe herunter und mein Blick sucht die sonnenbeleuchtete Schloßfassade ab. Neben dem kleinen Portal gibt es gekrümmte Schleifspuren im Verputz der Wand bis in die Höhe der Oberkante des Portals; exakte kreisrunde Bögen. Wie er es so oft macht, streicht der Wind über Bäume, Sträucher und Blumen, bringt sie ein wenig zum Zittern und Schwingen und läßt sie dann wieder. Der Autolärm ist hinter all dem versteckt, das Vogelgezwitscher ganz nah, nur manchmal hört man die Autoreifen auf dem Asphalt. Ein Raubvogel – es könnte ein Habicht sein – kreist ganz hoch oben in den sonnigen Lüften, während ein paar weiße Wolken gemächlich über das Blau ziehen. Was hier wie ein Idylle ausschaut, ist es nicht: es wird hier rundherum gejagt, getötet, gefressen und gekämpft und gestorben. Alle Tiere und Pflanzen haben Bewußtsein. Wieder kommt ein Windhauch, streift meinen Kopf und meine ärmellosen Arme, wird kurz stärker und legt sich dann wieder – ich weiß nicht, wohin. Man hört es den Autoreifen an, dass sie sich nicht immer so leicht tun, sich von der Anhaftung an Asphalt und Pflaster zu lösen. Ein Kuckuck ruft. Ein Hund bellt. Dann kommt ein Windhauch von rechts, aus der anderen Richtung. Ich schaue hier 300 Grad Nordwest, so wie ich auf der Bank sitze. Ach, jetzt rufen ein paar Krähen; schon sind sie wieder weg. Eine helle Mittagsglocke läutet, wird aber von nahen Autos übertönt; sie kommt nur für einen kurzen Moment durch. Wen kümmert es, dass der Tag seinen Höhepunkt erreicht hat – was ja schon wegen der Sommerzeit nicht stimmt. Wir wissen nichts mehr von der wachsenden und absterbenden Vergänglichkeit. Jetzt läutet eine nähere Kirchenglocke die Tagesmitte und läßt sich und ihre Botschaft nicht übertönen. Kurz hält alles inne. Einzelne Insekten summen in rasendem Tempo über die gemähte Wiese. Die Schwalben sausen meist lautlos über die Gärten. Das dichte, grüne Laub des Lindenkollektivs rechts von mir ist von massiver Präsenz und beansprucht selbstbewußt seinen Raum. Die Mauern dahinter stehen sprachlos und warm in der Sonne. Im Westen ist das Himmelsblau milchiger.


(9.5.2024)


©Peter Alois Rumpf Mai 2024 peteraloisrumpf@gmail.com

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