2920 Lamentatio praecox
Klaviertöne füllen den Raum (und die Zeit). Die Sonne ist
schon hinter den Bäumen am Horizont. Der Akupunkturmann trägt schon seit
Jahrzehnten ein rotes Kleid. Und der Corpus Delicti ist seit Jahrzehnten
verhüllt: ein Corpus Christi ohne Kreuz an die Wand gehängt. Ich blicke durch
die Terassentür auf die herbstelnde Hecke. Erst jetzt, wo ich das schreibe,
bewegt ein Lufthauch ein paar Zweiglein und Blätter. Oder sitzt eine Hexe da an
der Grenze von bekannter und unbekannter Welt und winkt mir? Mein
Wahrnehmungsapparat mag mir die Wahrnehmung liefern, aber mein verklemmtes
Alltagsbewußtsein schafft es nicht – wenn eine auf der Hecke sitzt – sie
Gestalt sein zu lassen und deutet interpretiert sie und ihr Winken als
Windhauch um. Wenn eine Hexe dort sitzt! Möglicherweise will mein
ängstliches Alltagsbewußtsein die Hexe auch gar nicht wahrnehmen – wenn überhaupt
eine auf dieser Hecke sitzt. Es ist fraglich, ob sie dort glücklich wäre, denn
die Hecke trennt nicht das Bekannte vom Unbekannten, sondern das eine
Grundstück und Eigentum vom anderen Grundstück und Eigentum. Aber wer weiß:
vielleicht ist unsere wichtige Alltagswelt nur eine schwächliche Skizze über massiveres
energetisches Geschehen geworfen.
Dalken werden mitgenommen; ich Dalketer bleibe sitzen. Gut,
das war jetzt ein etwas brutaler Szenenwechsel, aber vom kosmischen Geschehen
inszeniert. Gerade fährt kein Auto vorüber, darum höre ich meine Schuhsohlen knarzen,
weil ich nervös die Zehen bewege und mit dem überschlagenen Fuß wippe.
Irgendein Gerät (Computer?) läuft intern im Kreis – zumindest hört sich das
Geräusch so an. Die vielgerühmte künstliche Intelligenz jetzt auch schon
Sisyphos. Kommt an kein Ende.
Menschen-Kinder-Stimmen aus dem Straßengraben. Das ist kein
Graben, der neben der Straße einhergeht, sondern der Graben, in dem die Straße
verläuft.
Ein Loch in der Hecke, in dem sich etwas bewegt. Ein Vogel?
Ein Blatt im Wind? Ich starre hin, kann jedoch das Rätsel nicht lösen. Die
Bewegung ist nicht mit dem Wind synchron und jetzt für ein paar Sekunden
verschwunden. Vielleicht ein Vogel, der sein Gefieder putzt? Dann wäre es der
wippende Schwanz, den ich sehe. Wenn das stimmt, dann müßte es eine Amsel sein.
Ich starre wieder hin. Das Blattwerk beginnt schon zu verschwimmen und zu
moussieren.
Nach meiner Wandmeditation heute Morgen, auf dem Weg
hierher, ist mir auf der langen Rolltreppe von der U2 zur U4 in der Station
Schottenring ein Titel für eine (ausgedachte) Sammlung meiner Texte
eingefallen: „Lamentatio praecox“. Vielleicht ist es das, was bei mir an der
Wand geschrieben steht.
(8.10.2022)
©Peter Alois Rumpf Oktober 2022
peteraloisrumpf@gmail.com
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