Mittwoch, 23. Juni 2021

2304 Sisyphos

 

Nachdem ich in der Sezession das Priesch'sche Buch abgeholt habe, das Hannes dort für mich hinterlegt hat, bin ich in die Albertina modern in der Nachmittagshitze hinüber gewandert, um den West-lichen Sisyphos zu überprüfen. Beim letzten Besuch war ich hingerissen, und heute will ich nachprüfen, ob das hält. Es wäre nicht das erste Mal, daß ich zunächst von etwas begeistert bin, aber auf einen zweiten Blick enttäuscht oder dass sich mir alles relativiert. Nun sitzen auf der Bank davor drei junge Damen und zeichnen ab. Mindestens zwei von denen die furchtbar grauslichen Bilder daneben, den KüstlerInnamen habe und will ich mir nicht merken. Überall in der Albertina modern sind junge Damen unterwegs und zeichnen, so sitze ich als Ausweich bei der Cecily Brown und dem Hollegha und den Katharina Grosses, aber eigentlich will ich zum Sisyphos. Mich zieht es zum Sisyphos und wegen ihm bin ich hergekommen. Aber bei denen da sitze ich auch nicht ungern (im Gegensatz zu vielen anderen Sälen). Am Weg wieder zum Sisyphos habe ich im Vorbeigehen noch die zwei blauunterlaufenen Fingermalereien des Baselisken goutiert.

Aber jetzt sitze ich vorm Sisyphos. Die Bank war wieder frei. Sofort nimmt mich das Objekt für sich ein. Ich deute es als den Stein, den er ewig rollt und in den schon all seine Energie und Lebenskraft, all seine Emotionen und gegen Ende hin all seine Liebe eingegangen sind. Weil er versucht hat, sein Schicksal nicht bloß anzunehmen, sondern zu lieben. Vielleicht ist er so zur Erlösung gelangt und sein Bewußtsein hat sich in die Unendlichkeit ausgedehnt und er ist nicht mehr hier (sonst könnte ja der Stein nicht da sein, wenn er noch immer gerollt wird!). Sein Stein jedoch ist hier. Vielleicht war es so. Sicher bin ich mir nicht. Aber es gibt schon Kräfte, die stärker sind als die antiken Götter.

Mich erinnert der „Stein“, der Sisyphos heißt, in Form und Gestalt an den riesigen Stein in Unterburg, der vom Grimming heruntergerollt ist und genau vor der Haustür eines der Häuser stehengeblieben ist. Als Kind mit weit offener Seele hat mich das mächtig beeindruckt; die Straße hat damals ganz nahe am Haus vorbeigeführt und jedesmal hat mir bei diesem Anblick der Atem gestockt und hat eine Welle von Entsetzen in meiner empfindsamen, verschreckten Herzen ausgelöst (heute führt eine begradigte, landschaftverleugnende Straße auf einer „verbesserten“, flotteren Trasse in größerem Abstand an diesem Haus vorbei; und kaum jemandem, der davon nicht weiß, wird dieser Stein vorm Haus noch auffallen, wenn er überhaupt noch dort steht. Wieder ist unsere menschengemachte Realität um eine Erfahrung (!) ärmer).

Der „Stein“ hier ist aber bunter, farbiger, vom vielen Rollen kleiner geworden: wie gesagt: Sisyphos hat in seinen Ewigkeiten seine Gefühle und Emotionen hineingedrückt, hingeschwitzt, hineingeblutet, sich an ihm abgerieben und so ist er schön geworden und erschreckt mich nicht, weil neben Verzweiflung und Schmerz auch Liebe dabei ist. Ja, ich liebe diesen Sisyphos. Ich bleibe dabei. Und jetzt lege ich mein Schreibzeug weg und schaue nur den „Stein“ an.

Ich weiß nicht, wie körperlich der Sisyphos in seiner verbannten Ewigkeit ist oder war: ich sehe am „Stein“ auf das Abgearbeitete, Geschundene, Blutende, Verletzte; die Schrunden des Steins und die Spuren der Schrunden und Wunden des Sisyphos am Stein. Entwickelt ein Stein bei so einer Behandlung und Intensität der Begegnung selbst ein Bewußtsein? Oder bekommt ein möglicherweise, vermutlich ganz schwaches Leuchten in ihm Energie zugeführt und wird stärker und bewußter? Antwortet der Stein dem Sisyphos, empfindet er für den Sisyphos und empfindet er dessen Arbeit mit und an ihm? Nimmt er immer mehr vom Bewußtsein seines tragischen Verbannten auf und wird der Stein so immer mehr zum Sisyphos? Bis der sich ganz in ihm auflösen kann? Wie schon gesagt: es gibt Kräfte, die stärker sind als die antiken Götter und ihre Verbannungen. Jedenfalls wird der Stein zu einem Kraftobjekt im Sinne der Zauberer. Ich lege das Schreibzeug weg und schaue nur den „Stein“ an.

Der West-liche Stein da wird plastischer, wenn ich ihn anstarre und beginnt zu leuchten und bekommt eine weiße Aura. Auch wölbt sich dann deutlich eine Nase nach vorn. Kann dieses Objekt doch das zerquälte Gesicht des Sisyphos sein und nicht sein Stein? Sind ihm die Augen schon blutig geweint? Oder sind die beiden nicht mehr zu unterscheiden nach Ewigkeiten intensiver Abreibung? Ich lege das Schreibzeug weg und schaue nur auf das Objekt.

Der Stein – ich bleibe wieder dabei – leuchtet nicht nur und wird nicht nur plastisch – er strahlt und beginnt zu schweben. Ich lege mein Schreibzeug weg und schaue nur den „Stein“ an.

Jetzt bin ich unsicher: es stehen da links zwei Skulpturen: eine heißt „Sisyphos“ und eine ist ohne Titel, wie ich den Texten an der Wand entnehme. Aber welches ist welches? Für mich war bisher sofort und ohne Zweifel klar, welche der „Sisyphos“ ist, aber stimmt das auch? Ich werde fragen. Ich bin jetzt völlig irritiert und verunsichert! Was, wenn ich einer selbstgemachten Mystifikation aufgesessen bin? Alles falsch und umsonst? Alle meine Gefühle und Gedanken völlig daneben? Meine ganze innere Gewißheit entgleitet mir und zerfällt. Ich werde jetzt sofort gehen! Ich muß etwas essen! Anscheinend muß immer diese Verunsicherung aufpoppen!

 

(22.6.2021)

 

©Peter Alois Rumpf   Juni 2021   peteraloisrumpf@gmail.com

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