2304 Sisyphos
Nachdem ich in der Sezession das Priesch'sche Buch abgeholt
habe, das Hannes dort für mich hinterlegt hat, bin ich in die Albertina modern
in der Nachmittagshitze hinüber gewandert, um den West-lichen Sisyphos zu
überprüfen. Beim letzten Besuch war ich hingerissen, und heute will ich
nachprüfen, ob das hält. Es wäre nicht das erste Mal, daß ich zunächst von
etwas begeistert bin, aber auf einen zweiten Blick enttäuscht oder dass sich
mir alles relativiert. Nun sitzen auf der Bank davor drei junge Damen und
zeichnen ab. Mindestens zwei von denen die furchtbar grauslichen Bilder
daneben, den KüstlerInnamen habe und will ich mir nicht merken. Überall in der
Albertina modern sind junge Damen unterwegs und zeichnen, so sitze ich als
Ausweich bei der Cecily Brown und dem Hollegha und den Katharina Grosses, aber
eigentlich will ich zum Sisyphos. Mich zieht es zum Sisyphos und wegen ihm bin
ich hergekommen. Aber bei denen da sitze ich auch nicht ungern (im Gegensatz zu
vielen anderen Sälen). Am Weg wieder zum Sisyphos habe ich im Vorbeigehen noch
die zwei blauunterlaufenen Fingermalereien des Baselisken goutiert.
Aber jetzt sitze ich vorm Sisyphos. Die Bank war wieder
frei. Sofort nimmt mich das Objekt für sich ein. Ich deute es als den Stein,
den er ewig rollt und in den schon all seine Energie und Lebenskraft, all seine
Emotionen und gegen Ende hin all seine Liebe eingegangen sind. Weil er versucht
hat, sein Schicksal nicht bloß anzunehmen, sondern zu lieben. Vielleicht ist er
so zur Erlösung gelangt und sein Bewußtsein hat sich in die Unendlichkeit
ausgedehnt und er ist nicht mehr hier (sonst könnte ja der Stein nicht da sein,
wenn er noch immer gerollt wird!). Sein Stein jedoch ist hier. Vielleicht war
es so. Sicher bin ich mir nicht. Aber es gibt schon Kräfte, die stärker sind als die
antiken Götter.
Mich erinnert der „Stein“, der Sisyphos heißt, in Form und
Gestalt an den riesigen Stein in Unterburg, der vom Grimming heruntergerollt
ist und genau vor der Haustür eines der Häuser stehengeblieben ist. Als Kind
mit weit offener Seele hat mich das mächtig beeindruckt; die Straße hat damals
ganz nahe am Haus vorbeigeführt und jedesmal hat mir bei diesem Anblick der
Atem gestockt und hat eine Welle von Entsetzen in meiner empfindsamen,
verschreckten Herzen ausgelöst (heute führt eine begradigte,
landschaftverleugnende Straße auf einer „verbesserten“, flotteren Trasse in
größerem Abstand an diesem Haus vorbei; und kaum jemandem, der davon nicht
weiß, wird dieser Stein vorm Haus noch auffallen, wenn er überhaupt noch dort
steht. Wieder ist unsere menschengemachte Realität um eine Erfahrung (!)
ärmer).
Der „Stein“ hier ist aber bunter, farbiger, vom vielen
Rollen kleiner geworden: wie gesagt: Sisyphos hat in seinen Ewigkeiten seine
Gefühle und Emotionen hineingedrückt, hingeschwitzt, hineingeblutet, sich an
ihm abgerieben und so ist er schön geworden und erschreckt mich nicht, weil
neben Verzweiflung und Schmerz auch Liebe dabei ist. Ja, ich liebe diesen
Sisyphos. Ich bleibe dabei. Und jetzt lege ich mein Schreibzeug weg und schaue
nur den „Stein“ an.
Ich weiß nicht, wie körperlich der Sisyphos in seiner
verbannten Ewigkeit ist oder war: ich sehe am „Stein“ auf das Abgearbeitete,
Geschundene, Blutende, Verletzte; die Schrunden des Steins und die Spuren der
Schrunden und Wunden des Sisyphos am Stein. Entwickelt ein Stein bei so einer
Behandlung und Intensität der Begegnung selbst ein Bewußtsein? Oder bekommt ein
möglicherweise, vermutlich ganz schwaches Leuchten in ihm Energie zugeführt und
wird stärker und bewußter? Antwortet der Stein dem Sisyphos, empfindet er für
den Sisyphos und empfindet er dessen Arbeit mit und an ihm? Nimmt er immer mehr
vom Bewußtsein seines tragischen Verbannten auf und wird der Stein so immer
mehr zum Sisyphos? Bis der sich ganz in ihm auflösen kann? Wie schon gesagt: es
gibt Kräfte, die stärker sind als die antiken Götter und ihre Verbannungen.
Jedenfalls wird der Stein zu einem Kraftobjekt im Sinne der Zauberer. Ich lege
das Schreibzeug weg und schaue nur den „Stein“ an.
Der West-liche Stein da wird plastischer, wenn ich ihn
anstarre und beginnt zu leuchten und bekommt eine weiße Aura. Auch wölbt sich
dann deutlich eine Nase nach vorn. Kann dieses Objekt doch das zerquälte
Gesicht des Sisyphos sein und nicht sein Stein? Sind ihm die Augen schon blutig
geweint? Oder sind die beiden nicht mehr zu unterscheiden nach Ewigkeiten
intensiver Abreibung? Ich lege das Schreibzeug weg und schaue nur auf das
Objekt.
Der Stein – ich bleibe wieder dabei – leuchtet nicht nur und
wird nicht nur plastisch – er strahlt und beginnt zu schweben. Ich lege mein
Schreibzeug weg und schaue nur den „Stein“ an.
Jetzt bin ich unsicher: es stehen da links zwei Skulpturen:
eine heißt „Sisyphos“ und eine ist ohne Titel, wie ich den Texten an der Wand
entnehme. Aber welches ist welches? Für mich war bisher sofort und ohne Zweifel
klar, welche der „Sisyphos“ ist, aber stimmt das auch? Ich werde fragen. Ich
bin jetzt völlig irritiert und verunsichert! Was, wenn ich einer
selbstgemachten Mystifikation aufgesessen bin? Alles falsch und umsonst? Alle
meine Gefühle und Gedanken völlig daneben? Meine ganze innere Gewißheit
entgleitet mir und zerfällt. Ich werde jetzt sofort gehen! Ich muß etwas essen!
Anscheinend muß immer diese Verunsicherung aufpoppen!
(22.6.2021)
©Peter Alois Rumpf Juni 2021
peteraloisrumpf@gmail.com
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