2030 Der Wundertäter, der kein Wunder tut, tut ein Wunder
Der Wundertäter, der darauf verzichtet, irgendwelche Wunder
zu vollbringen, hat es sich in seinem Reich – auch Kemenatenreich genannt –
ohne Wunder häuslich eingerichtet. Im Wesentlichen besteht das Reich aus einem
kleinen Zimmer. Man könnte den Wundertäter auch als einen König ohne Land
bezeichnen, der im Reiche und bei einer Königin Asyl gefunden hat.
Er lebt dort zurückgezogen und bescheiden, verläßt tagelang
nicht den Palast, hält sich vor allem in der Kemenate auf, die ihm zur
Verfügung gestellt wurde, und in der sich alle seine Schätze befinden, benützt
jedoch manchmal auch andere Zimmer des verborgenen Palastes der Königin – wie
zum Beispiel Wohnzimmer, Küche, Bäder – denn er steht mit ihr auf gutem Fuß.
Auf sehr gutem Fuß! So gut, daß er sie manchmal in ihrem Schlafalkoven besucht.
Es gibt ein Laster, dem der Wundertäter fröhnt: er benützt
täglich mehrmals eine bestimmte Droge – ich hoffe, liebe Leserinnen und Leser,
ihr seid nicht total schockiert: er trinkt täglich mehrere Tassen Kaffee! Zwar
bevorzugt er einen Kaffee, den er den skandinavischen nennt, weil sie in den
skandinavischen Krimis ständig und auch zur Nachtzeit Kaffee trinken und er
deswegen annimmt, dass der sehr dünn sein muß, aber Droge ist Droge, nicht wahr?
Deshalb stellt der Wundertäter, wenn er einen Kaffee zubereitet, die
Kaffeemaschine der Königin auf Maximum Wasser und Minimum Kaffeepulver. Diesen
Kaffee trinkt er, eine Mischung aus Dinkel- und Haferdrink beigegeben. Er ist
richtig süchtig danach und bekommt Kopfweh und Entzugserscheinungen, wenn er
die Droge absetzt.
Eines Tages im Oktober, schon gegen Abend hin, schreitet der
Wundertäter in seiner herrlichen, unnachahmlichen Art zur Kaffeemaschine,
stellt sie nach seiner Gewohnheit ein und drückt den Startknopf. Die
Kaffeemaschine legt los, mahlt lärmend die Kaffeebohnen, surrt und zischt mit
dem Wasser herum, spritzt es – von außen nicht sichtbar – in die Pulverkammer,
wartet, macht unter Surren und Gurgeln weiter und läßt den dünnen, wässrigen
Kaffee in die Tasse rinnen. Bis jetzt ist alles normal. Die Tasse, die der
Wundertäter benutzt, ist übrigens die einzige, die groß genug ist, die ein- und
bestellte Flüssigkeitsmenge aufzunehmen.
Und dann passiert etwas unvorhergesehenes und der
Wundertäter vollbringt den ersten Teil seines Wunders: Die Kaffeemaschine hört
mit dem Wasserlassen nicht mehr auf! Das Kaffeeheferl wird voller und voller und
droht schon überzugehen, da – oh Wunder! - die Flüssigkeit hat schon den
obersten Rand erreicht – da stoppt die Kaffeemaschine, weil ihr Wasserbehälter
leer ist. So kann der Wundertäter das volle Heferl vorsichtig aus der Maschine
nehmen und eine leere Tasse – die zweitgrößte in der Sammlung der Königin –
unterstellen. Dann nimmt er den Wasserbehälter heraus, füllt ihn voll, setzt
ihn wieder an der richtigen Stelle ein und die Kaffeemaschine brunnt weiter.
Selbstvergessen und ohne zu Denken setzt sich der Wundertäter innerlich mit den
kosmischen Kräften in Verbindung, fliegt ins Möglichkeitslager des Universums
und zieht „Maschine halt!“ aus dem Potentiellen heraus und mit ganzer magischer
Kraft in das Hier-und-Jetzt und schleudert es in die Maschine. Und wirklich:
die Maschine hört auf zu brunnen! - der zweite Teil des Wunders.
Der Wundertäter vollbrachte dieses Wunder fast
unabsichtlich, ganz spontan aus der Situation heraus, geschockt von der
Vorstellung, dass wie im Märchen vom süßen Brei der Brei, hier der Kaffee nicht
mehr aufhört zu fließen und Küche und Palast seiner Königin überschwemmt und
ruiniert und sie alle mit Kind und Kegel ertrinken müssen.
Jetzt muß der Wundertäter ohne Wunder damit leben, doch ein
Wunder vollbracht zu haben.
(Anmerkung zum Verbum „brunnen“: das ist die ursprüngliche
Form, die mit dem Suffix -zen zur Intensivform „brunzen“ verstärkt wurde und
einfach „wie ein Brunnen Wasser abgeben“ heißt.)
(10./11.10.2020)
©Peter Alois Rumpf
Oktober 2020
peteraloisrumpf@gmail.com
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