Sonntag, 11. Oktober 2020

2030 Der Wundertäter, der kein Wunder tut, tut ein Wunder

 

Der Wundertäter, der darauf verzichtet, irgendwelche Wunder zu vollbringen, hat es sich in seinem Reich – auch Kemenatenreich genannt – ohne Wunder häuslich eingerichtet. Im Wesentlichen besteht das Reich aus einem kleinen Zimmer. Man könnte den Wundertäter auch als einen König ohne Land bezeichnen, der im Reiche und bei einer Königin Asyl gefunden hat.

Er lebt dort zurückgezogen und bescheiden, verläßt tagelang nicht den Palast, hält sich vor allem in der Kemenate auf, die ihm zur Verfügung gestellt wurde, und in der sich alle seine Schätze befinden, benützt jedoch manchmal auch andere Zimmer des verborgenen Palastes der Königin – wie zum Beispiel Wohnzimmer, Küche, Bäder – denn er steht mit ihr auf gutem Fuß. Auf sehr gutem Fuß! So gut, daß er sie manchmal in ihrem Schlafalkoven besucht.

Es gibt ein Laster, dem der Wundertäter fröhnt: er benützt täglich mehrmals eine bestimmte Droge – ich hoffe, liebe Leserinnen und Leser, ihr seid nicht total schockiert: er trinkt täglich mehrere Tassen Kaffee! Zwar bevorzugt er einen Kaffee, den er den skandinavischen nennt, weil sie in den skandinavischen Krimis ständig und auch zur Nachtzeit Kaffee trinken und er deswegen annimmt, dass der sehr dünn sein muß, aber Droge ist Droge, nicht wahr? Deshalb stellt der Wundertäter, wenn er einen Kaffee zubereitet, die Kaffeemaschine der Königin auf Maximum Wasser und Minimum Kaffeepulver. Diesen Kaffee trinkt er, eine Mischung aus Dinkel- und Haferdrink beigegeben. Er ist richtig süchtig danach und bekommt Kopfweh und Entzugserscheinungen, wenn er die Droge absetzt.

Eines Tages im Oktober, schon gegen Abend hin, schreitet der Wundertäter in seiner herrlichen, unnachahmlichen Art zur Kaffeemaschine, stellt sie nach seiner Gewohnheit ein und drückt den Startknopf. Die Kaffeemaschine legt los, mahlt lärmend die Kaffeebohnen, surrt und zischt mit dem Wasser herum, spritzt es – von außen nicht sichtbar – in die Pulverkammer, wartet, macht unter Surren und Gurgeln weiter und läßt den dünnen, wässrigen Kaffee in die Tasse rinnen. Bis jetzt ist alles normal. Die Tasse, die der Wundertäter benutzt, ist übrigens die einzige, die groß genug ist, die ein- und bestellte Flüssigkeitsmenge aufzunehmen.

Und dann passiert etwas unvorhergesehenes und der Wundertäter vollbringt den ersten Teil seines Wunders: Die Kaffeemaschine hört mit dem Wasserlassen nicht mehr auf! Das Kaffeeheferl wird voller und voller und droht schon überzugehen, da – oh Wunder! - die Flüssigkeit hat schon den obersten Rand erreicht – da stoppt die Kaffeemaschine, weil ihr Wasserbehälter leer ist. So kann der Wundertäter das volle Heferl vorsichtig aus der Maschine nehmen und eine leere Tasse – die zweitgrößte in der Sammlung der Königin – unterstellen. Dann nimmt er den Wasserbehälter heraus, füllt ihn voll, setzt ihn wieder an der richtigen Stelle ein und die Kaffeemaschine brunnt weiter. Selbstvergessen und ohne zu Denken setzt sich der Wundertäter innerlich mit den kosmischen Kräften in Verbindung, fliegt ins Möglichkeitslager des Universums und zieht „Maschine halt!“ aus dem Potentiellen heraus und mit ganzer magischer Kraft in das Hier-und-Jetzt und schleudert es in die Maschine. Und wirklich: die Maschine hört auf zu brunnen! - der zweite Teil des Wunders.

Der Wundertäter vollbrachte dieses Wunder fast unabsichtlich, ganz spontan aus der Situation heraus, geschockt von der Vorstellung, dass wie im Märchen vom süßen Brei der Brei, hier der Kaffee nicht mehr aufhört zu fließen und Küche und Palast seiner Königin überschwemmt und ruiniert und sie alle mit Kind und Kegel ertrinken müssen.

Jetzt muß der Wundertäter ohne Wunder damit leben, doch ein Wunder vollbracht zu haben.

 

(Anmerkung zum Verbum „brunnen“: das ist die ursprüngliche Form, die mit dem Suffix -zen zur Intensivform „brunzen“ verstärkt wurde und einfach „wie ein Brunnen Wasser abgeben“ heißt.)



 

(10./11.10.2020)

 



©Peter Alois Rumpf   Oktober 2020   peteraloisrumpf@gmail.com

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