Mittwoch, 17. Juni 2020

1891 „Peter, der Trauminet“


Diese Geschichte von Karl Maier-Heimdalt (aus „Das bunte Buch“; Geschichten, Märchen, Sagen) handelt von einem kleinen Buben namens Peter, der klein, schwach, ängstlich und unsportlich ist. Er schläft und träumt gerne, denkt sich vorm Einschlafen Geschichten aus, in denen er der Held ist, hat Angst vor der Realität, vor den anderen, stärkeren Buben, wenn in der Schule zwei Mannschaften gebildet werden oder die spielenden Buben sich zum Beispiel in Cowboys und Indianer aufteilen, will ihn keine Gruppe haben und reden voll Verachtung über und zu ihm und nennen ihn Feigling, Hasenfuß und Trauminet. Er sucht den Schutz der Autoritäten (zu recht, dafür wären sie ja da).
Auf einem Schulausflug, nach einem Gewitter, führt ein Bach Hochwasser und als sie diesen auf einem schmalen Steg überqueren, fällt ein Bub, auch eher ein ängstlicher, der den Peter nie verspottet hat, in den reißenden Bach und bevor jemand reagiert, springt Peter in den Bach um den einzigen Freund zu retten, aber er wird sofort selbst abgetrieben und schließlich retten diesen Buben der Lehrer und den Peter zwei der starken Buben. Peter bekommt eine Lungenentzündung und es ist nicht sicher, ob er überlebt. Aber schließlich hat er die Krise überwunden und die großen starken Buben kommen ihn besuchen und versprechen, ihn nicht mehr zu hänseln, weil er ja mit seinem Möchtegernrettungssprung bewiesen hat, dass er kein Feigling ist.

Diese Geschichte ist doch völlig verdreht! Entweder man schreibt ein Märchen, meinetwegen ein Evangelium, dann muß der Peter den anderen Bub retten, oder man läßt das. Reinhupfen für nix und wieder nix – ich bezweifle, dass das bei den starken Buben großen Eindruck macht. Ich würde eher erwarten, dass sie sagen: „so ein Depp!“ Und ich bin mir auch nicht sicher, ob sie reinspringen würden, um ihn zu retten. Aber das mag ein dumme Spekulation eines frustrierten und verbitterten Geistes sein. Trotzdem: wenn schon, sollte man dann bei einer solchen Geschichte nicht weit ausholen und hoch ansetzen? Das heißt, dem Peter die Rettung gelingen lassen? Oder sie tragisch beenden! Das da ist weder das eine, noch das andere. Mir kommt sie sehr phantastisch und ausgedacht vor und letztlich sind doch alle brav.

Ich kann mich aber noch erinnern, welcher Schock es für mich als Kind war, als ich auf diese Geschichte gestoßen bin. Abgesehen davon, dass ich nicht der Kleinste in der Klasse war, hat die Beschreibung des Peter auf mich zu hundert Prozent zugetroffen! Und jetzt heißt er noch so wie ich! Mir ist vorgekommen, als wäre damit mein Charakter schon vor ewigen und für ewige Zeiten im Großen Buch festgeschrieben. Welche Scham, so aufgedeckt zu werden. Und noch schlimmer: ich traute mir nicht zu, reinzuspringen um den andern retten zu wollen. Dann waren da noch die spöttischen und verächtlichen Anmerkungen meines Vaters dazu, der meinen Schrecken – wie es der Teufel will, war er dabei – genau mitbekommen hat. Ich konnte es nicht einmal unbemerkt mit mir selber ausmachen.

Es fehlt in der Geschichte ja auch jede Andeutung, was die Qualitäten eines solchen Kindes sein könnten – der rustikale Wertekanon mit seinen strukturell notwendigen Übergriffen und Menschenopfern (Sündenböcke; Mobbing, Mühlviertler Hasenjagd) bleibt unangetastet.
Aber ich will es andeuten. Das hat jetzt mit dieser Geschichte nichts mehr zu tun, sondern mit meiner kindlichen Frömmigkeit damals: irgendwo hatte ich gelesen – vielleicht in einem Beichtspiegel – dass man seine Gedanken beherrschen lernen kann. Und wer jetzt glaubt, es kommt eine fürchterliche Geschichte von Schuldgefühlen und moralischer Quälerei, irrt. An diesem Punkt nicht. Im Gegenteil: ich habe es als Volksschulkind ohne spirituelle Unterstützung geschafft, wie ein buddhistischer Novize meine Tagträumereien, die ich bevorzugt am Abend vorm Einschlafen exzessiv veranstaltet hatte, abzustellen – aber eben ohne Selbsthass. Ich hatte verstanden, dass diese Tagträume meine Energien auf illusorischen Boden und auf Luftschlösser lenken, und mit einer unglaublichen Geduld meinen Kampf geführt. Ohne mich zu ärgern oder mich zu beschimpfen habe ich jedesmal, wenn ich dieser weltflüchtigen Sucht verfiel, den Gedankenfluß mit einem festen, inneren „Halt!“ gestoppt und mein Bewußtsein wieder herausgeführt. Und wenn es ein, zwei oder fünf Minuten später wieder losging, habe ich genauso sanft und konsequent nochmals von Neuem begonnen – bis ich mir das Tagträumen tatsächlich abgewöhnt hatte. Und ohne die Affenmetapher zu kennen. Was hätte aus mir werden können, wenn ich einen echten, kompetenten, weisen Begleiter für diese Bewußtseinsreise gehabt hätte!

Aber hatte ich nicht. Ein paar Jahre später bin ich dieser Sucht wieder von Neuem verfallen, und das hatte auch mit dem „bunten Buch“ zu tun. Das ist aber eine andere Geschichte.












(16./17.6.2020)











©Peter Alois Rumpf,  Juni 2020  peteraloisrumpf@gmail.com


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