Montag, 10. Februar 2020

1751 Albert, Ina und Ich

Nun sitze ich vor Modiglianis Prostituierten und betrachte ihren Busen, den ich heute Morgen zu Hause am Magnetbildchen (ohne noch zu wissen, daß es sich um eine bedauernswerte Prostituierte handelt) am stillgelegten Kassettenrekorder nicht ausnehmen (!) konnte. Erst hier erkenne ich, daß sie ihren linken Busen mit ihrer rechten Hand hält, so, daß ihre Brustwarze – ich kann es immer noch nicht sehen – hergezeigt oder mit ihrem Zeigefinger (!) abgedeckt wird.
Ihren Kopf hält sie schief, vermutlich denkt, weiß, glaubt sie, Männer mögen das. Was mich betrifft – ich weiß nicht.

Der Modigliani – feig? rücksichtsvoll? - malt ihre Augen leer. Keine Pupillen stellen Kontakt her – aber ich bilde mir ein, den unsäglichen Schmerz und die ungeheuerliche Verlassenheit in ihren Augen zu erkennen.

Nachdem mich der Wächter schon umkreist, gehe ich weiter.

Henri Mangiuns schlamm- und gatschfarbener Rückenakt unter Bäumen spricht mich an, aber es gibt keine Sitzgelegenheit, von der aus ich das Bild in Ruhe betrachten könnte. Eine schöne nackte Frau mit einem schönen Arsch, die Farben ganz toll gesetzt. Aber wie gesagt: im Stehen bekomme ich Kreuzschmerzen und so kann ich nicht wirklich herausfinden, ob das Bild ein Verbündeter ist oder mich anklagt.

Einer meiner Lieblingssitzplätze vorm quadratischen Klee ist frei (The Hungry Song/Chicha libre), wie immer beruhigt sich vor diesem Bild mein wundes Herz fast zu Tränen.
Bald aber wende ich mich Feiningers Promenade in Arcueil weiter links zu und ich muß wieder lachen (damit es kein Mißverständnis gibt: der Klee tröstet mich ungemein nach all den Gemeinheiten der letzten Zeit); der fanatische Sonntags-Spaziergang-Blick der Bladen, der kleine, etwas gesichtsderangierte Mann mit Hut und Bart. Die anderen zwei Eleganten Tanten und Ganten mit ihrem überrascht verschreckten Blick flüchten sich in „ach, wir sind so, so elegant!“ Und die Schirme erst! Diese Ausgeburten an Lächerlichkeit! - aber großartig und elegant (siehst du!) gemalt. (Aufpassen Bursche! Daß das Urteil der Lächerlichkeit nicht auch noch deine Beschreibung betrifft! Wer – bitte – gebiert lächerliche Schirme?! Das wäre was: der Maler karikiert die promenierende Bougoisie und sein Spott trifft auch den Schreiberling 105 Jahre später!)
Und weiter!

Weit bin ich nicht gekommen, denn es springt mich Jawlenskys bunter Berg bei Oberstdorf an (dort muß sich einmal eine ganze Partie getroffen haben; zuhause habe ich ein Fotokärtchen von Oberstdorf von Monet – ungewöhnlich düster, was wohl der Landschaft, dem Wald und dem Klima dort geschuldet ist).
Ein wenig zu weit entfernt sitz ich – und dadurch ist viel Raum für Projektionen und Überschreibungen, kann man nicht sagen: Überbilderungen meinerseits - aber ich glaube, dieses Bild klagt mich nicht an. Nein, wenn ich sehe, wie rechts die Kontur des Waldes sich unten im Tal und am Gegenhang verläuft und dort gemeinsam mit den Wald aufgeht. Der Maler muß sich in dieser auf den ersten Blick vermutlich faden Landschaft (ich glaube, es gibt keine faden Landschaften; denn Gott „sah, daß es gut war!“) vermutlich so sehr nach Farbe gesehnt haben, daß er verzweifelt oder erlöst (oder erst verzweifelt, dann erlöst) den Berg bunt gesehen oder erfunden hat. Die Abend(- oder Morgen-?)Sonne am letzten (ersten) leuchtenden Berggrat mag ihm dabei geholfen haben. Der Gegenhang – nicht nur der Wald gegenüber – ist auch ganz ... schön … gemalt.

Im Vorbeigehen gesagt: Kirchners spitze Frauen sind auch rund.

Gegen Noldes Mondnacht will ich gar nichts sagen. Ich kann sie gut anschauen (klagt mich nicht an); bei Muellers badenden Mädchen bin ich mir nicht sicher – ich traue ihnen zu, daß sie mich auslachen und bloßstellen.

Munchs Winterlandschaft schaue ich in spitzem Winkel an – meine Augen, mein Herz können sich dort erholen (klagt mich nicht an).

Aber jetzt! - ich sehe schon hinüber!

Aber jetzt bin ich bei Kokoschkas Städtelandschaften – mein liebster Platz hier. Mir treibt's die Tränen hinter die Augen. Der Platz ist frei. Ich glaube, der Platz liebt mich schon. Dieser Platz jagt mich nicht weg. Selbst wenn mich die Wächter rausschmissen – der Platz erlaubte mir, bei ihm zu sein und auch die zwei Bilder haben – glaube ich – nichts dagegen.
Die anderen Bilder im Raum ignoriere ich, auch die Nackte im meinem Rücken; nur links und rechts lasse ich die je zwei Bilder an mich heran.
Und toll, wie ich heute die Menschen hier ignoriere.
In Dresden kann ich ein paar Leute an beiden Ufern der Elbe („in Dresden, das steht ja die Elbe so still, und die Stadt fließt so träge vorbei“ W. Biermann) erkennen und in London ebenso am rechten (?) Ufer der Themse. Das Dresdner Bild ist so alt wie mein Vater, das Londoner etwas jünger: wie weit die Zeit damals schon war! Und wie dieses Gesindel, das dann auf und zur Macht gekommen ist, die Zeit nicht nur aufgehalten, sondern grausam zurückgeworfen hat! Meine Eltern waren daran beteiligt und heute versucht es das gleiche Gesindel wieder.

Beim Obst links kann ich den Vogel nicht so gut erkennen, was mir nur recht ist, ich mag ihn nicht so – den Berg dahinter jedoch liebe ich.
Das erste Mal heute lenkt mich der wirklich schöne, wohlgeformte Hintern einer jungen Frau, noch dazu jeansmäßig gekonnt betont, ab und raubt mir kurz den Atem, als er vor mir Sitzendem in Augenhöhe schwebend verharrt. Ich bin sicher, ich komme bald – nach einem tiefen Seufzer – wieder zu den Tränen zurück.

Ich bin sicherheitshalber weitergegangen bis zur kardinalen Witzfigur. Gegenüber sitze ich, mich selbst sehe ich im Spiegel als feschen älteren Herrn in den besten Jahren (hahaha) mit der Botschaft, daß es jetzt grad gar nicht passe, den Pullover - die Ärmeln vorn am Rumpf herunterhängend – über die Schulter geworfen – so wie das die angstgetriebenen, strachischen Spießer keck und cool und fix finden. Musikalisch habe ich auf Montessori … ach nein … auf Morrisseys gekonnten Jammerklagen umgeschaltet; dann brauch ich nicht weinen und kann über meine Trauer lachen. Mein Spitzbärtchen leuchtet mir weiß-grau herüber, die Augen schielen über den oberen Brillenrand her und den Ausdruck in ihnen kann ich nicht wirklich lesen. Schelmisch? Traurig? Gleichgültig? Professionell schwindelnd? Ich konstantiniere (Konstantin der Große) … also: konsterniere … verdammt! … konstatiere (es stimmt irgendwas mit meinem Gehirn nicht mehr!), wie wieder eine Tränenflut hinter die Augen drängt, aber dort ist Schluß mit dem Selbstmitleid! „Exit! Exit! … running to the exit!“ (singt der geniale Jammerer).
Ein kleines Lächeln spielt um meinen Mund - wie ich im Spiegel entdecke - auch weil eine Aufseherin zweimal zufällig neben mir stehen geblieben und aus dem Fenster hinter mir geschaut hat (Präsenz zeigen! Präsenz zeigen gegenüber potenziellen Attentätern! Peter, der Täter – hatten wir schon öfters). Gut, gehen wir weiter. Muß eh aufs Klo.

Nachdem ich mich am Ort der Klausur erleichtert habe, gehe ich wieder zurück in die Weilersche Batliner-Sammlung, nehme aber die andere Richtung, sodaß ich gleich in den Picasso-Raum komme. Ginge ich in meiner üblichen Richtung, käme ich zuerst in den Klee-Raum, dann in den Picasso-Raum. Aber nach dem feinen Klee ist mir der Picasso einfach zu grobianisch und aufdringlich. Vielleicht eh nur lebensvoller, geiler, machistischer, mit Karacho (das heißt mit erigiertem Penis) unterwegs. Ich bin doch in Paris (Mein Pariser Exil – hier in der Schublade Nr.93 vom 9.3.2015) dauernd ins Picasso-Museum gepilgert; also irgendwas muß ich daran doch finden können. Das einzige Bild, das mich hier anspricht, ist mir gerade verstellt. Jetzt ist der Blick frei, wahnsinnig gekonnte Form- und Farbgebung. Ebenso der Farbauftrag (nicht, daß ich dazu irgendetwas zu sagen habe – ich notiere nur meine Gedanken).
Verbündete? Klagen sie mich an?

Max Ernsts Silence à Travers des âges berührt mich heute stark. Eine gewisse Vergeblichkeit  à Travers des âges? Zu den Jahresringen das Blatt als vergeblichen Versuch, eine Erinnerung an Wachstum und Leben festzuhalten? („ein Hauch des Windes, und schon sind sie dahin, und der Ort wo sie standen, er hat sie vergessen“.)
Mir geht nun das Gejammer vom begnadeten Morrissey, das ich sonst so gern habe, auf die Nerven und ich schalte auf die wunderbare Aldous Harding.

Vom Giacometti beeindruckt mich das Landschaftsbild. Und – das fällt mir erst jetzt und zum ersten Mal auf: die Schatten seiner beleuchteten Figuren an der Wand! Diese Schattenwürfe werfen – nein, das darf man nicht: schmeißen mich fast um! Besonders der Schatten der Käfig-Skulptur berührt mein Herz. Der Mensch mit den ausgestreckten Armen – hält er sich am Käfig fest? Am Schatten seh ich jetzt alles deutlicher: was für ein Schmerz! was für eine Angst! trotzdem: niemand muß, darf, braucht diesem Menschen etwas vorwerfen (und wer es dürfte, tut es nicht), denn der Mensch als Schatten steht in einer Wahrheit da. Ja, das ist es.
Der Schatten des Menschen steht da, fast gelingt ihm der Übertritt, der entscheidende Schritt. Fast. Der Schatten von der schönen, traurigen Gestalt.

Ich gehe in den Klee-Raum. Dort drehe ich nur ein paar unkonzentrierte Runden, weil meine Aufnahmefähigkeit sehr nachgelassen hat. Die Assuan-Zeichnung – so unaufdringlich, leicht und schön. Die Trümmer des Barbaren-Tempels – so weich und zart. Und die Stimmung vorm Fest: … was sag ich? Konzentriert? Nervös? Unkonzentriert?
Und die irrende Seele, 1929: bin das schon ich? Ich, der sich schon seine Eltern auszusuchen beginnt und sie, als sie noch Kinder sind,  umschwirrt? (und irrt, und irrt) (Aldous Harding singt vom weiblichen Schmerz)

Und beim Rückweg sehe ich: Giacomettis Schatten sind noch atemberaubender als auf den ersten Blick. Die vier Frauen: wie eine weibliche Verklärung am Berg Tabor, oder wo auch immer.
Und die schmale Büste auf Sockel: wie verzweifelt sich der Schatten da als so ein verquältes, zerdrücktes, unscheinbares Ding im Licht zu halten versucht, schlecht und recht sich reckt gegen seine Auflösung und gegen die überblendende Kraft des Lichtes ankämpft. Mit Schatten ist es schnell vorbei.

Erschöpft verlasse ich die Batliner-Sammlung und lasse mich auf der Bank im Gang zwischen den Welten vor den zwei blödgesichtigen Sphinxen nieder, die zwei depperten Schwestern, um das fertig zu schreiben. Fragen habe ich keine und ich will von ihnen auch keine Antworten.

Und trotz meiner Angst vor dem Rausschmiss und der Sorge, mit meinem Herumgetue die Wächt* zu überfordern, gehöre ich hierher, hierher, ich gehöre auch hier her! Selbst wenn die Kronenzeitung oder der Clan die Albertina übernimmt: viele Werke erlauben mir, sie zu betrachten und klagen mich nicht an! Nicht von der Idiotenseite und Kronenzeitungseitedrei her. Sub specie aeternitatis mag das anders sein, aber gerade die oben – ganz im Gegensatz zu den Behauptungen der verbreiteten Tradition – klagen nicht an, niemanden! Sie zeigen ihm nur seine tiefste Wahrheit. Punkt. Aus. Amen.

Ich bleib noch ein wenig sitzen, ich bleib noch ein wenig da und lausche Aldous Hardings Horizon während viele Menschen an mir vorbeidefilieren.











(10.2.2020)












©Peter Alois Rumpf,  Februar 2020  peteraloisrumpf@gmail.com

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