Donnerstag, 6. Februar 2020

1741 Go In To End


Links hinten vor Leibls Wildschützen, noch hinter der – wie ich bei genauerem Hinsehen feststelle - eigenartigen Säule sitze ich, der Schreiber, John Frusciantes Carvel im Ohr, und kritzle mit diesem ebenfalls eigenartig-unguten Grün métallisée in mein Notizbuch. In gerader Richtung vor mir ist der Durchgang zu einem tiefer gelegenen Ausstellungsraum, in dem meine Frau fasziniert die Bilder betrachtet und die Begleittexte studiert, während ich ihr unverwandt auf den Hintern gaffe.
Ein kleiner, alter Pleampel verstellt mir nun genau im genannten Durchgang die Sicht auf meines Weibes Arsch, bis er sich endlich entschließt, seine Rotzwischerei abzuschließen, das Taschentuch samt Rotz einzustecken („der Bauer ist keck, der schmeißt des Rotz weg. Der Städter ist fein, der steckt des Rotz ein.“ Sinnspruch mindestens aus dem vorigen Jahrhundert; wahrscheinlich aus dem vorvorigen, so wie die Bilder hier) und endlich weiterzugehen (ja,ja, ich kenne es von beiden Seiten: das Stehenbleiben und Zögern an der Schwelle, und das Bedürfnis, dem Zögernden einen ordentlichen Tritt zu verpassen).

Der John Frusciante verfröhlicht mit seiner Musik meinen Kampfgeist, dieser vor ein paar Stunden erwacht, sodaß ich ohne meinen Gegner/meine Gegnerin verurteilen zu müssen, ihn/sie ordentlich beschimpfen und verprügeln könnte. Einfach so aus universalistischer Notwendigkeit und unegoistischer Selbstbehauptung (universalistisch: hier: im Sinne des Universums und seiner Gesetze) heraus. Die Wildschützen sind ja auch keine Waisenknaben (ich schon! Mehr als man von einem Nichtwaisen erwarten kann).

Eine Frau berührt von hinten meine Schulter und streicht mir sanft und zärtlich über den Kopf; ich jedoch unterbreche zunächst weder meine Schreiberei, noch den John Frusciante, sondern mache einfach weiter. Erst als die Dame offensichtlich weg ist, hebe ich mein Gesicht, drehe mich um und stelle fest: es war eh „nur“ meine Frau, also wirklich kein Grund zur Aufregung! (Das „nur“ eben nur eskalationstechnisch gemeint.)

Vor allem die Zeichnungen gefallen mir und Johnny singt, daß er seine Vergangenheit bereue. Er – maybe – seine langen Jahre der Drogen- und Sexsucht (ich versteh kein Englisch)  - ich jedoch bereue das Gegenteil: nie einen Trip geschmissen und auch sonst nicht ausgiebig mit Drogen und Sex experimentiert zu haben; was Schlimmeres, Elendigeres als jetzt da sitzt könnte dann auch nicht herausgekommen sein. Aber auch das ist mir egal. Mit dem Grab meiner Eltern sollen sie machen, was sie wollen. Von mir aus können sie ein Scheißhaus darüber errichten – ich zahle nichts mehr für die Grabpflege! Wenn es noch Restenergie meiner Eltern im Univerum gibt, dann hängt sie sicher nicht da unten, sondern schwirrt ganz woanders herum, wenn die Energiefäden nicht schon längst entwirrt, aufgelöst und neue Verbindungen eingegangen sind. Außerdem muß man den Eltern nur dafür dankbar sein, daß sie einen in die Welt gesetzt haben, für sonst nichts. Aller weitere Dank ist freiwillig! Und soweit es mich betrifft bin ich mir nicht sicher, ob ich ihnen dankbar bin, daß sie mich als ihren Sündenbock und zum Abarbeiten ihrer universellen Schuld in diese Trottelwelt hineingeschüttet haben, hineingeworfen wie bestellt und nicht abgeholt, auch wenn ich dafür dankbar sein müßte (und wenn ich bei Trost wäre, wäre ich es auch – momentan bin ich nicht bei Trost).

Ich gehe weiter zu weiteren Bildern: die dunklen, düsteren Zeichnungen sprechen mich tatsächlich an, obwohl ich dieses neunzehnte Jahrhundert nicht mag.

Ich laß die Bauernzeichnungen, die aber schon so modern sind (und erst da wird es für mich interessant) voll auf den John Frusciante auflaufen – ich kenne keine Rücksichtnahme mehr, sondern lasse alles aufeinanderprallen.

Ich will sofort wieder selber zeichnen! Weiß aber genau, daß ich das nicht kann. Aber nur, weil ich zu gehorsam bin. Ich muß nur wilder werden. Her mit den Drogen! Oh Heiland, reiß die Himmel auf! Nachher darf man wieder sanft sein.

Apropos „Waisenknaben“: was für ein Blödsinn, daß Waisenknaben brav sind! Gebrochen: viele. Aber einige sicher auch wild! Sehr wild!

Jetzt habe ich mich zu den blödgesichtigen Sphinxen gesetzt, weil ich es nicht ausgehalten habe, mit meinem Utensilienbeutel für Schreibzeug, Ausweise, Notizbuch, Kugelschreiber, Brillen samt Etui, Telefon, MP3-Player, meine Hinsetzerei und Schreiberei hier in den Ausstellungsräumen den Aufseher möglicherweise irritiert vel zu größerer Wachsamkeit und Anspannung gezwungen zu haben. Mir ist es so vorgekommen.

Beim Selbstporträt vom Leibl meine ich schon zu sehen, daß er weiß, was er ist und will. Und die Bauern haben verschlossene, harte Münder - keine Idylle! Trotz dem zur Idyllisierung neigenden Chaure – ich weiß plötzlich nicht mehr, wie man das schreibt! - irgendetwas stimmt mit meinem Gehirn nicht mehr: Jaure; nein ist auch falsch! Jenre. Verdammt noch mal! Genre! Jetzt hab ichs! Genre!

„Gut sehen ist alles“, sagt der Leibl. Stimmt. Ich sehe nicht gut. Das ist dann auch alles.

„Go In To End“ spielt Johnny und mir ist zum Heulen.










(5.2.2020)










©Peter Alois Rumpf,  Februar 2020  peteraloisrumpf@gmail.com


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