1741 Go In To End
Links hinten vor Leibls Wildschützen, noch hinter der – wie
ich bei genauerem Hinsehen feststelle - eigenartigen Säule sitze ich, der
Schreiber, John Frusciantes Carvel im Ohr, und kritzle mit diesem ebenfalls
eigenartig-unguten Grün métallisée in mein Notizbuch. In
gerader Richtung vor mir ist der Durchgang zu einem tiefer gelegenen
Ausstellungsraum, in dem meine Frau fasziniert die Bilder betrachtet und die
Begleittexte studiert, während ich ihr unverwandt auf den Hintern gaffe.
Ein kleiner, alter Pleampel verstellt mir nun genau im
genannten Durchgang die Sicht auf meines Weibes Arsch, bis er sich endlich
entschließt, seine Rotzwischerei abzuschließen, das Taschentuch samt Rotz
einzustecken („der Bauer ist keck, der schmeißt des Rotz weg. Der Städter ist
fein, der steckt des Rotz ein.“ Sinnspruch mindestens aus dem vorigen
Jahrhundert; wahrscheinlich aus dem vorvorigen, so wie die Bilder hier) und
endlich weiterzugehen (ja,ja, ich kenne es von beiden Seiten: das Stehenbleiben
und Zögern an der Schwelle, und das Bedürfnis, dem Zögernden einen ordentlichen
Tritt zu verpassen).
Der John Frusciante verfröhlicht mit seiner Musik meinen
Kampfgeist, dieser vor ein paar Stunden erwacht, sodaß ich ohne meinen
Gegner/meine Gegnerin verurteilen zu müssen, ihn/sie ordentlich beschimpfen und
verprügeln könnte. Einfach so aus universalistischer Notwendigkeit und
unegoistischer Selbstbehauptung (universalistisch: hier: im Sinne des
Universums und seiner Gesetze) heraus. Die Wildschützen sind ja auch keine
Waisenknaben (ich schon! Mehr als man von einem Nichtwaisen erwarten kann).
Eine Frau berührt von hinten meine Schulter und streicht mir
sanft und zärtlich über den Kopf; ich jedoch unterbreche zunächst weder meine
Schreiberei, noch den John Frusciante, sondern mache einfach weiter. Erst als
die Dame offensichtlich weg ist, hebe ich mein Gesicht, drehe mich um und
stelle fest: es war eh „nur“ meine Frau, also wirklich kein Grund zur
Aufregung! (Das „nur“ eben nur eskalationstechnisch gemeint.)
Vor allem die Zeichnungen gefallen mir und Johnny singt, daß
er seine Vergangenheit bereue. Er – maybe – seine langen Jahre der Drogen- und
Sexsucht (ich versteh kein Englisch) -
ich jedoch bereue das Gegenteil: nie einen Trip geschmissen und auch sonst
nicht ausgiebig mit Drogen und Sex experimentiert zu haben; was Schlimmeres,
Elendigeres als jetzt da sitzt könnte dann auch nicht herausgekommen sein. Aber
auch das ist mir egal. Mit dem Grab meiner Eltern sollen sie machen, was sie
wollen. Von mir aus können sie ein Scheißhaus darüber errichten – ich zahle
nichts mehr für die Grabpflege! Wenn es noch Restenergie meiner Eltern im
Univerum gibt, dann hängt sie sicher nicht da unten, sondern schwirrt ganz
woanders herum, wenn die Energiefäden nicht schon längst entwirrt, aufgelöst
und neue Verbindungen eingegangen sind. Außerdem muß man den Eltern nur
dafür dankbar sein, daß sie einen in die Welt gesetzt haben, für sonst nichts.
Aller weitere Dank ist freiwillig! Und soweit es mich betrifft bin ich mir
nicht sicher, ob ich ihnen dankbar bin, daß sie mich als ihren Sündenbock und
zum Abarbeiten ihrer universellen Schuld in diese Trottelwelt hineingeschüttet
haben, hineingeworfen wie bestellt und nicht abgeholt, auch wenn ich dafür
dankbar sein müßte (und wenn ich bei Trost wäre, wäre ich es auch – momentan
bin ich nicht bei Trost).
Ich gehe weiter zu weiteren Bildern: die dunklen, düsteren
Zeichnungen sprechen mich tatsächlich an, obwohl ich dieses neunzehnte
Jahrhundert nicht mag.
Ich laß die Bauernzeichnungen, die aber schon so modern sind
(und erst da wird es für mich interessant) voll auf den John Frusciante
auflaufen – ich kenne keine Rücksichtnahme mehr, sondern lasse alles
aufeinanderprallen.
Ich will sofort wieder selber zeichnen! Weiß aber genau, daß
ich das nicht kann. Aber nur, weil ich zu gehorsam bin. Ich muß nur
wilder werden. Her mit den Drogen! Oh Heiland, reiß die Himmel auf! Nachher
darf man wieder sanft sein.
Apropos „Waisenknaben“: was für ein Blödsinn, daß
Waisenknaben brav sind! Gebrochen: viele. Aber einige sicher auch wild! Sehr
wild!
Jetzt habe ich mich zu den blödgesichtigen Sphinxen gesetzt,
weil ich es nicht ausgehalten habe, mit meinem Utensilienbeutel für Schreibzeug,
Ausweise, Notizbuch, Kugelschreiber, Brillen samt Etui, Telefon, MP3-Player,
meine Hinsetzerei und Schreiberei hier in den Ausstellungsräumen den Aufseher
möglicherweise irritiert vel zu größerer Wachsamkeit und Anspannung gezwungen
zu haben. Mir ist es so vorgekommen.
Beim Selbstporträt vom Leibl meine ich schon zu sehen, daß
er weiß, was er ist und will. Und die Bauern haben verschlossene, harte Münder
- keine Idylle! Trotz dem zur Idyllisierung neigenden Chaure – ich weiß
plötzlich nicht mehr, wie man das schreibt! - irgendetwas stimmt mit meinem
Gehirn nicht mehr: Jaure; nein ist auch falsch! Jenre. Verdammt noch mal!
Genre! Jetzt hab ichs! Genre!
„Gut sehen ist alles“, sagt der Leibl. Stimmt. Ich sehe
nicht gut. Das ist dann auch alles.
„Go In To End“ spielt Johnny und mir ist zum Heulen.
(5.2.2020)
©Peter Alois Rumpf, Februar 2020
peteraloisrumpf@gmail.com
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