Montag, 4. November 2019

1573 Tage der Erkenntnis


In den letzten Tagen hatte ich drei oder vier wichtige Erkenntnisse:

1 Wenn ich jemanden idealisiere, gebe ich der Person die Chance, sich selbst zu erhöhen. Das muß nicht heißen, daß ich selber an diese Erhöhung „glaube“; es kann gut sein, daß ich die Mickrigkeit der Person merke, aber ich biete ihr an, so zu tun, als wäre sie großartig. Beides ist also beim Idealisieren möglich: ich überschätze und idealisiere die Person tatsächlich, oder ich spiele ihr und den anderen das vor, aus welchen Gründen auch immer (Ich kann vermeintliche Autoritäten oder Rollenautoritäten – von Amts wegen wie Eltern, Lehrer, Priester etc - nicht stürzen sehen; ich habe Mitleid (nicht Mitgefühl!) mit der von ihrer Rolle zum Beispiel überforderten Person oder was weiß ich noch).

2 Mein Katholizismus der Kindheit war ganz anders als der damals ländlich übliche. Er ist nicht aus einer katholischen Familien- oder Regionalkultur gekommen. Weder Eltern noch Verwandte waren „richtig“ katholisch, eher im Gegenteil: antiklerikal (aus der Nazirichtung), „aufgeklärt“ und „rationalistisch“ aus einem primitiven Vulgärdarwinismus, wie er ja auch für die Nazis typisch war. Metaphysik: no! (Und wenn doch benötigt, dann ins abgetrennt esoterische gehend). Durchaus eine gewisse soziologische und „psychologische“ Sichtweise (vor allem bei meiner Mutter), zum Beispiel Priester sind hauptsächlich Schwule, da ja richtige Männer so nicht sind und nur als Sieger im bloß gewalttätig gesehenen Daseinskampf gedacht werden konnten. („Gedacht“ deshalb, weil bei wirklicher Wahrnehmung die Nazis sich selber als vorwiegend schwächliche, feige, unmännliche Männer hätten wahrnehmen müssen.) Keuschheit kann bestenfalls absurd, eher aber äußerst verdächtig sein („ein ordentlicher Mann stößt sich die Hörndl ab“, Zitat Mutter).
Also kommt mein kindlicher Katholizismus wirklich aus der Kirche und folgerichtig bin ich bei der Messe zum Beispiel ja nie im Publikum gesessen, das vorm Konzil VatII noch hinterm Rücken des Priesters ihre eigene, stark heidnisch geprägte Religions- und Brauchtumsausübungen und Ausdeutungen (die liturgischen Texte in Latein – das sie nicht verstanden und auch nicht verstehen mußten) durchziehen konnte, sondern ich war von Anfang an als Ministrant im Dienste vorne beim Altar, im Zentrum des Geschehens, als Ministrant und Lektor bei den Fachleuten, Schriftgelehrten, Pharisäern, den Hierarchen und Zeremonienmeistern und nahe beim magischen Zentrum des Allerheiligsten, nicht beim gewöhnlichen Volk hinter dem Kommunionsgitter, beim Volk, das sich bei aller teilweise (wirklich nur teilweise!) bezeugter Ehrerbietung den Priestern gegenüber einen feuchten Dreck um deren Ansagen und Vorschriften scherte. Es gab natürlich auch am Land eine forciert katholische Minderheit, aber mit solch einer Lebenswelt hatte ich noch weniger zu tun. Daß meine Eltern zu mir wie die eines befreundeten Jugendlichen zu ihrem Sohn gesagt hätten „in ana Rau(c)hnocht gehstma nicht zum Gabriel (Disco); des erlaub i da nit!“ wäre bei mir undenkbar gewesen, da so ein als mittelalterlich-zurückgeblieben angesehenes mythisches Denken bei meinen Eltern undenkbar war.
Nein! Ich war gleich zu Beginn meiner hoffnungsvoll startenden Kirchenkarriere bei der Elite! (die kann vom Volk offen vel heimlich durchaus verachtet werden). Und meine Katholizismus war näher bei Hierarchie, Evangelium und Liturgie als der übliche. Und ich hab das Ganze ernster genommen als ein durchschnittlicher Katholik.

3 Am Morgen im Hotel beginnt meine liebe Frau völlig entgegen ihre Gewohnheit über das Hotel, speziell über die Kordeln bei den Vorhängen zu schimpfen. Da sie hier ausnahmsweise auf der Seite im Bett liegt, auf der üblicherweise ich immer gelegen bin, dachte ich zuerst, sie mache sich via Seitentausch ist gleich Rollentausch über mich lustig, denn das „kritische Schimpfen“ ist ansonsten mein Part, und ich wollte schon loslachen, da merke ich, es ist ihr ernst damit. Und da war ich plötzlich schockiert und völlig verunsichert, ja, richtig eingeschüchtert. Schlagartig wurde mir bewußt - aber nicht bloß intellektuell, denn da meinte ich das schon lange durchschaut zu haben – richtig bewußt, wie destruktiv, zerstörerisch und einschüchternd dieses „kritische“ Verhalten ist, das überall etwas zum Kritisieren finden muß, um sich die eigene Überlegenheit, Unabhängigkeit, „Reife“ (ich bin kein naives Kind mehr) zu beweisen. Oh wie unreif! Bei anderen habe ich das oft schon bemerkt, nur bei mir selbst ist mir mein pubertäres, unreifes Verhalten nicht aufgefallen! Vielleicht eine typische Verhaltensattitüde der Achtundsechziger-Generation? Ja, mag sein, aber dann gilt das nicht nur für Linke, sondern auch für Döbraniten zum Beispiel.
Was jedoch noch wichtiger ist: eine Ahnung davon, was ich damit meinen Kindern in ihrem Aufwachsen angetan habe!

4 Die vierte Erkenntnis habe ich vergessen.










(31.10./2.11.2019)











©Peter Alois Rumpf,  November 2019  peteraloisrumpf@gmail.com

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