1573 Tage der Erkenntnis
In den letzten Tagen hatte ich drei oder vier wichtige
Erkenntnisse:
1 Wenn ich jemanden idealisiere, gebe ich der Person die
Chance, sich selbst zu erhöhen. Das muß nicht heißen, daß ich selber an diese
Erhöhung „glaube“; es kann gut sein, daß ich die Mickrigkeit der Person merke,
aber ich biete ihr an, so zu tun, als wäre sie großartig. Beides ist also beim
Idealisieren möglich: ich überschätze und idealisiere die Person tatsächlich,
oder ich spiele ihr und den anderen das vor, aus welchen Gründen auch immer
(Ich kann vermeintliche Autoritäten oder Rollenautoritäten – von Amts wegen wie
Eltern, Lehrer, Priester etc - nicht stürzen sehen; ich habe Mitleid (nicht
Mitgefühl!) mit der von ihrer Rolle zum Beispiel überforderten Person oder was
weiß ich noch).
2 Mein Katholizismus der Kindheit war ganz anders als der
damals ländlich übliche. Er ist nicht aus einer katholischen Familien- oder
Regionalkultur gekommen. Weder Eltern noch Verwandte waren „richtig“
katholisch, eher im Gegenteil: antiklerikal (aus der Nazirichtung),
„aufgeklärt“ und „rationalistisch“ aus einem primitiven Vulgärdarwinismus, wie
er ja auch für die Nazis typisch war. Metaphysik: no! (Und wenn doch benötigt,
dann ins abgetrennt esoterische gehend). Durchaus eine gewisse soziologische
und „psychologische“ Sichtweise (vor allem bei meiner Mutter), zum Beispiel
Priester sind hauptsächlich Schwule, da ja richtige Männer so nicht sind und nur
als Sieger im bloß gewalttätig gesehenen Daseinskampf gedacht werden konnten.
(„Gedacht“ deshalb, weil bei wirklicher Wahrnehmung die Nazis sich selber als
vorwiegend schwächliche, feige, unmännliche Männer hätten wahrnehmen müssen.)
Keuschheit kann bestenfalls absurd, eher aber äußerst verdächtig sein („ein
ordentlicher Mann stößt sich die Hörndl ab“, Zitat Mutter).
Also kommt mein kindlicher Katholizismus wirklich aus der
Kirche und folgerichtig bin ich bei der Messe zum Beispiel ja nie im Publikum
gesessen, das vorm Konzil VatII noch hinterm Rücken des Priesters ihre eigene,
stark heidnisch geprägte Religions- und Brauchtumsausübungen und Ausdeutungen
(die liturgischen Texte in Latein – das sie nicht verstanden und auch nicht
verstehen mußten) durchziehen konnte, sondern ich war von Anfang an als
Ministrant im Dienste vorne beim Altar, im Zentrum des Geschehens, als
Ministrant und Lektor bei den Fachleuten, Schriftgelehrten, Pharisäern, den
Hierarchen und Zeremonienmeistern und nahe beim magischen Zentrum des
Allerheiligsten, nicht beim gewöhnlichen Volk hinter dem Kommunionsgitter, beim
Volk, das sich bei aller teilweise (wirklich nur teilweise!) bezeugter
Ehrerbietung den Priestern gegenüber einen feuchten Dreck um deren Ansagen und
Vorschriften scherte. Es gab natürlich auch am Land eine forciert katholische
Minderheit, aber mit solch einer Lebenswelt hatte ich noch weniger zu tun. Daß
meine Eltern zu mir wie die eines befreundeten Jugendlichen zu ihrem Sohn
gesagt hätten „in ana Rau(c)hnocht gehstma nicht zum Gabriel (Disco); des
erlaub i da nit!“ wäre bei mir undenkbar gewesen, da so ein als
mittelalterlich-zurückgeblieben angesehenes mythisches Denken bei meinen Eltern
undenkbar war.
Nein! Ich war gleich zu Beginn meiner hoffnungsvoll
startenden Kirchenkarriere bei der Elite! (die kann vom Volk offen vel heimlich
durchaus verachtet werden). Und meine Katholizismus war näher bei Hierarchie,
Evangelium und Liturgie als der übliche. Und ich hab das Ganze ernster genommen
als ein durchschnittlicher Katholik.
3 Am Morgen im Hotel beginnt meine liebe Frau völlig
entgegen ihre Gewohnheit über das Hotel, speziell über die Kordeln bei den
Vorhängen zu schimpfen. Da sie hier ausnahmsweise auf der Seite im Bett liegt,
auf der üblicherweise ich immer gelegen bin, dachte ich zuerst, sie mache sich
via Seitentausch ist gleich Rollentausch über mich lustig, denn das „kritische
Schimpfen“ ist ansonsten mein Part, und ich wollte schon loslachen, da merke
ich, es ist ihr ernst damit. Und da war ich plötzlich schockiert und völlig
verunsichert, ja, richtig eingeschüchtert. Schlagartig wurde mir bewußt - aber
nicht bloß intellektuell, denn da meinte ich das schon lange durchschaut zu
haben – richtig bewußt, wie destruktiv, zerstörerisch und einschüchternd dieses
„kritische“ Verhalten ist, das überall etwas zum Kritisieren finden muß, um
sich die eigene Überlegenheit, Unabhängigkeit, „Reife“ (ich bin kein naives
Kind mehr) zu beweisen. Oh wie unreif! Bei anderen habe ich das oft schon
bemerkt, nur bei mir selbst ist mir mein pubertäres, unreifes Verhalten nicht
aufgefallen! Vielleicht eine typische Verhaltensattitüde der
Achtundsechziger-Generation? Ja, mag sein, aber dann gilt das nicht nur für
Linke, sondern auch für Döbraniten zum Beispiel.
Was jedoch noch wichtiger ist: eine Ahnung davon, was ich
damit meinen Kindern in ihrem Aufwachsen angetan habe!
4 Die vierte Erkenntnis habe ich vergessen.
(31.10./2.11.2019)
©Peter Alois Rumpf,
November 2019
peteraloisrumpf@gmail.com
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