Dienstag, 29. Oktober 2019

1569 Guten Morgen


„Guten Morgen!“ rufe ich um halb neun Vormittag gut gelaunt ins Lokal. Keine Antwort. „War das jetzt zu laut oder schon zu spät?“ frage ich dann in die spärliche Runde. Jetzt bekomme ich von den beiden Damen – der Kellner ist schon weg – ein Lächeln. Zumindest von einer. Eine, das ist jetzt sicher!
Ich hatte nämlich heute einen Zahnambulatoriumstermin um sieben Uhr Morgen und bin dafür um halb sechs aufgestanden – ohne Frühstück verlasse ich ungern das Haus - und dann fröhlich und mit Elan zu Fuß durch die Morgendämmerung dorthin gewandert. Mir tut nämlich die moderate Kälte und die Frische in der Luft seelisch gut – die ist mir lieber als die faule, wehleidige Föhnwärme vorher. Und nach dem Termin bin ich eben in eines meiner Lieblingslokale.

Ansonsten bin ich viel später dort. Wer meine Schublade regelmäßig liest, weiß, wie schwer ich mich meistens mit dem Aufstehen tue. Und ich habe großes Verständnis, wenn frau/man fröhliche Morgenaktivisten nicht ausstehen können. Ich bin ja selber dem „Im Frühtau zu Berge“ und dem „Und die Morgenstunde, das ist unsere Zeit“ gegenüber äußerst mißtrauisch, erst recht seit ich weiß, daß das naziverseucht ist (obwohl der Mister H erst gegen vierzehn Uhr aufzustehen pflegte). Aber heute war ich gut drauf und Punkt.

Meine normale lokale Besuchszeit gegenwärtig ist zwischen elf und siebzehn Uhr. Früher war das die Nacht. Viel früher. So ab zweiundzwanzig Uhr.

Ungefähr im Jahr 1985 bin ich manchmal zu später Stunde in so einer Art Leichenstehhalle eingekehrt. Alle dort sind so klug, intelligent, neutral und cool herumgestanden und nichts hat sich gerührt. Bei Kunststudenten war dieses Lokal sehr beliebt, bei Kunststudenten, die so taten, als würden sie sich das volle Leben geben. Auch ich bin dort so einsam, kontaktlos, tot herumstanden, habe getrunken und geraucht. In den anderen vor mir frequentierten Lokalen konnte ich durch Trinken Schwung aufnehmen und aufblühen, ganze Tische unterhalten – aber dort hat sogar das Trinken nicht funktioniert. Also zünde ich mir in besagtem Lokal wieder einmal eine Zigarette an und nach einiger Zeit dämpfe ich sie mir auf der Unterseite meines rechten Unterarmes aus. Langsam den Druck erhöhend, damit sie noch ein ordentliches Loch in mein Fleisch brennen kann. So tat ich, lokalkonform ohne eine Miene zu verziehen. Ich bin stark, sehr sehr stark und tapfer! (Ist „so tat ich“ nicht zu pathetisch? Wäre die übliche Vergangenheitsform nicht angemessener? Oh Nein! Wer solche Heldentaten vollbringt, verdient Pathos!)











(28./29.10.2019)













©Peter Alois Rumpf,  Oktober 2019  peteraloisrumpf@gmail.com

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