Montag, 23. September 2019

1513 Unsere Spinnweben


1  Heute fallen mir unsere Spinnweben auf: vor allem die oben bei der Stiege, wo man weder mit dem Besen noch mit sonstetwas hingelangt: diese Spinnweben sind wunderschön: ihre schwebende Leichtigkeit und überaus große Verletzlichkeit bezeugen die Empfindlichkeit in unserer Welt. Wie heißt es im Kohelet? „Des Menschen Tage, sie gleichen dem Gras; er blüht wie die Blume des Feldes. Ein Hauch des Windes, und schon ist sie dahin. Und der Ort, wo sie stand, er hat sie vergessen.“ (aus dem Gedächtnis)

Auch ohne Bedeutungsaufladung sind diese Spinnweben schön.
Gut, seien wir ehrlich: man kann nicht „schön“ sagen ohne eine Theorie dazu zu haben. Also: lassen wir es offener, welche Bedeutung das hat und wofür wir es möglicherweise stehen lassen (das steht für …).

Hier herunten in den ordentlichen Bereichen der Wohnung sehe ich jetzt keine Spinnweben mehr. Ich werde nach oben gehen, wo auch mein unordentliches, kleines Reich liegt. Dort finde ich genug.


2  Ist es nicht so, daß man denkt: „ah, Spinnweben! Weg damit!“? Ich sitze nun an meinem Schreibtisch und betrachte die bereits staubbeladenen Spinnweben zwischen den vier Fensterflügeln. Das sind doch eigen-art-ige Kunstwerke. Sensibel ans Glas gehängt, in filigranen Linien und Flächen, die sich an manchen Stellen zu schwerer Dicke verdichten können, verschönern sie die Welt.
Oder die dort in der Zimmerecke: sie benutzt einen verlassenen und übriggebliebenen Nagel als Anhaltspunkt. Wie schlau und kommunikativ die Weberin war, nimmt sich des vergessenen Nagels an! (gehe ich zu weit?)

Oder da im hellen Bereich des Ateliers: in der Ecke dort kann ich gar nicht erkennen, was Spinnfäden sind und was Sprünge in Wand, Decke und Verputz: was für ein Zusammenspiel! (gehe ich zu weit?)
Und dort in der Ecke beim Mauervorsprung: kurze, kompakte Fäden hängen im Abstand zur Wand, als wären sie ein eigentümliches, futuristisches Ehrenzeichen, das magisch einen Zentimeter vor der behängten Brust schwebt (gehe ich zu weit?).

Und erst bei den Blumen am Fensterbrett! Wie organische Telefon- und Internetleitungen, mit denen sich die Pflanzen verbinden haben lassen, weil sie doch – in einzelne Blumentöpfe verbannt – nicht über ihre Wurzeln in der Erde verbunden sein können, über die sie normalerweise connected sind.

Ich schweife ab zu den Bäumen draußen: müde bewegen sie ihre Zweige, Äste, Blätter, verspielt, ein wenig fadisiert. „Herzlichen Glückwunsch! Ich bin neugierig, was ihr in zwanzig Minuten machen werdet, was euch dann eingefallen sein wird.“ (geh ich zu weit?)

(Von unten her drängen ganz ernsthafte Themen in mein Bewußtsein, aber ich scheue die volle Konfrontation.)


3  Die Spinnweben bei der Stiege sind einfach eine wunderschöne, feine, großartige Installation. Wie in der Ecke schwebende Schriftzüge einer exotischen Schrift, wie mene mene tekel upharsin - gewogen und zu leicht befunden.


4  Und die im Bad: da oben ein seidig durchsichtiges Zelt und dort wächst Gesponnenes aus einem Lüftungsloch heraus. Fischernetze, die sich über die Wand ziehen wie in einem italienischen Restaurant. Und ganz kleine, zarte Arbeiten, wo ich kaum erkennen kann, was Original, was Schatten ist.

Überhaupt Bad (keine bad news): heute ist das Wasser so gut und so flott und kraftvoll aus dem Waschbecken abgeflossen, daß sich der Metallstöpsel, mit dem der Abfluß mittels eines an den Armaturen angebrachten Hebels verschlossen und geöffnet werden kann, der dieses Metallding senkt oder hebt, dieses Metallding hat sich in der abfließenden Wasserspirale tanzend um die eigene Achse gedreht! Soetwas habe ich noch nie gesehen! Und ohne das ich dazu reparierend oder reinigend beigetragen hätte.


5  Eine Spinnwebe hängt neben einer bloßen Glühbirne ohne Lampenschirm; die Spinnwebe in respektvollem Abstand, wie jemand, der dieser einsamen, verbitterten Glühbirnexistenz beistehen (-hängen) will, ohne sie zu nerven oder zu nahe treten zu wollen. (Aber jetzt bin ich zu weit gegangen!)













(20.9.2019)













©Peter Alois Rumpf,  September 2019  peteraloisrumpf@gmail.com



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