1513 Unsere Spinnweben
1 Heute fallen mir
unsere Spinnweben auf: vor allem die oben bei der Stiege, wo man weder mit dem
Besen noch mit sonstetwas hingelangt: diese Spinnweben sind wunderschön: ihre
schwebende Leichtigkeit und überaus große Verletzlichkeit bezeugen die
Empfindlichkeit in unserer Welt. Wie heißt es im Kohelet? „Des Menschen Tage,
sie gleichen dem Gras; er blüht wie die Blume des Feldes. Ein Hauch des Windes,
und schon ist sie dahin. Und der Ort, wo sie stand, er hat sie vergessen.“ (aus
dem Gedächtnis)
Auch ohne Bedeutungsaufladung sind diese Spinnweben schön.
Gut, seien wir ehrlich: man kann nicht „schön“ sagen ohne
eine Theorie dazu zu haben. Also: lassen wir es offener, welche Bedeutung das
hat und wofür wir es möglicherweise stehen lassen (das steht für …).
Hier herunten in den ordentlichen Bereichen der Wohnung sehe
ich jetzt keine Spinnweben mehr. Ich werde nach oben gehen, wo auch mein
unordentliches, kleines Reich liegt. Dort finde ich genug.
2 Ist es nicht so,
daß man denkt: „ah, Spinnweben! Weg damit!“? Ich sitze nun an meinem
Schreibtisch und betrachte die bereits staubbeladenen Spinnweben zwischen den
vier Fensterflügeln. Das sind doch eigen-art-ige Kunstwerke. Sensibel ans Glas
gehängt, in filigranen Linien und Flächen, die sich an manchen Stellen zu
schwerer Dicke verdichten können, verschönern sie die Welt.
Oder die dort in der Zimmerecke: sie benutzt einen
verlassenen und übriggebliebenen Nagel als Anhaltspunkt. Wie schlau und
kommunikativ die Weberin war, nimmt sich des vergessenen Nagels an! (gehe ich
zu weit?)
Oder da im hellen Bereich des Ateliers: in der Ecke dort
kann ich gar nicht erkennen, was Spinnfäden sind und was Sprünge in Wand, Decke
und Verputz: was für ein Zusammenspiel! (gehe ich zu weit?)
Und dort in der Ecke beim Mauervorsprung: kurze, kompakte
Fäden hängen im Abstand zur Wand, als wären sie ein eigentümliches,
futuristisches Ehrenzeichen, das magisch einen Zentimeter vor der behängten
Brust schwebt (gehe ich zu weit?).
Und erst bei den Blumen am Fensterbrett! Wie organische
Telefon- und Internetleitungen, mit denen sich die Pflanzen verbinden haben
lassen, weil sie doch – in einzelne Blumentöpfe verbannt – nicht über ihre Wurzeln in der Erde verbunden sein
können, über die sie normalerweise connected sind.
Ich schweife ab zu den Bäumen draußen: müde bewegen sie ihre
Zweige, Äste, Blätter, verspielt, ein wenig fadisiert. „Herzlichen Glückwunsch!
Ich bin neugierig, was ihr in zwanzig Minuten machen werdet, was euch dann
eingefallen sein wird.“ (geh ich zu weit?)
(Von unten her drängen ganz ernsthafte Themen in mein
Bewußtsein, aber ich scheue die volle Konfrontation.)
3 Die Spinnweben bei
der Stiege sind einfach eine wunderschöne, feine, großartige Installation. Wie
in der Ecke schwebende Schriftzüge einer exotischen Schrift, wie mene mene
tekel upharsin - gewogen und zu leicht befunden.
4 Und die im Bad: da
oben ein seidig durchsichtiges Zelt und dort wächst Gesponnenes aus einem
Lüftungsloch heraus. Fischernetze, die sich über die Wand ziehen wie in einem
italienischen Restaurant. Und ganz kleine, zarte Arbeiten, wo ich kaum erkennen
kann, was Original, was Schatten ist.
Überhaupt Bad (keine bad news): heute ist das Wasser so gut
und so flott und kraftvoll aus dem Waschbecken abgeflossen, daß sich der
Metallstöpsel, mit dem der Abfluß mittels eines an den Armaturen angebrachten
Hebels verschlossen und geöffnet werden kann, der dieses Metallding senkt oder
hebt, dieses Metallding hat sich in der abfließenden Wasserspirale tanzend um
die eigene Achse gedreht! Soetwas habe ich noch nie gesehen! Und ohne das ich
dazu reparierend oder reinigend beigetragen hätte.
5 Eine Spinnwebe
hängt neben einer bloßen Glühbirne ohne Lampenschirm; die Spinnwebe in
respektvollem Abstand, wie jemand, der dieser einsamen, verbitterten
Glühbirnexistenz beistehen (-hängen) will, ohne sie zu nerven oder zu nahe
treten zu wollen. (Aber jetzt bin ich zu weit gegangen!)
(20.9.2019)
©Peter Alois Rumpf, September 2019
peteraloisrumpf@gmail.com
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