1308 Jetzt
In der abstrakt mit auf verschiedenste Art gesetzten Pinsel-
und Bürstenstrichen und -Flächen blau und weiß bemusterte Wand gegenüber sehe
ich durch meine Lesebrille eine schöne, an mittelalterliche oder gar an
römische Malerei erinnernde menschliche Gestalt. Ohne Brille kann ich sie noch
ein wenig erahnen. Und als ich die Brille wieder aufsetze, setzen sich die
abstrakten Striche und Farbflächen anders zusammen und ich kann die Gestalt
nicht mehr finden. Jetzt doch. Eindeutig römisch. Jetzt wieder anders: gekrümmt
und bestenfalls gotisch.
Jetzt als Tod – ihr wißt schon: aus dem prächtigen Gewand
schaut ein Totenkopf heraus.
Jetzt eine schöne, junge Frau, sogar ohne Brille. (Ist das
der Assoziationszwang von „der Tod und das Mädchen“? Oh wie mächtig die
Sprachbilder sind! Was für eine andere Welt, wenn ich dort den Tod, einen
römischen Jüngling, einen mittelalterlichen Edelmann, eine schöne Frau, einen
gekrümmten Bösen aus einem Boschbild sehe! Und in dieser vermeintlich
objektiven Welt jeweils entsprechend ganz anders agiere, besser: reagiere.)
Ich rede immer von der gleichen Stelle an der Wand.
Jetzt ist es ein segnender Mönch – entweder noch
Zisterzienser oder schon Dominikaner. Kalasantiner ist er sicher nicht.
Jetzt – ohne Brille – eine afroamerikanische Jazzsängerin
oder Rhythm-and-Blues-Musikerin wie Sister Rosetta Tharp.
Jetzt wie eine Fusion von Heinz Conrads und Mecki Peter
Weck.
Jetzt das Schweißtuch der Veronika, aber mit dem Bildnis der
Veronika drauf.
Jetzt eine erschöpfte Theresa May.
Jetzt eine Nachkriegstrümmerfrau ( ohne sie unnötig zu
heroisieren).
Jetzt einen Jüngling in etwa meines Jahrgangs so um 1972
herum.
Jetzt der wirklich reuige und ob seiner Untaten echt
zerknirschte Klaus Kinski (eine Vision aus dem Fegefeuer?).
(Ich bin immer noch an der selben Stelle.)
Jetzt die Brigitte Ederer überblendet von Frau Klasnic.
Jetzt ein ganz trauriges Gesicht mit einem Loch in der Stirn
– weiblich oder Jüngling kann ich nicht ausmachen.
Jetzt der jüngere Alfred Kolleritsch in seiner Haarpracht.
Jetzt das Halbprofil einer sehr traurigen … Frau, glaube
ich, die Augenlider gesenkt – könnte eine beschämte Schifahrerin der
Vierzigerjahre des vorigen Jahrhunderts sein.
Jetzt wieder fontal das Gesicht und der Oberkörper einer
zunächst etwas vulgären (Verzeihung!), dann aber viel, viel feiner wirkenden,
vollbusigen Dame. (Hätte ich hier das „Verzeihung!“ setzen sollen?)
Jetzt schaut mich ein Gesicht, halb verborgen, von einem ganz,
ganz weit entfernten Ort an. Aber nicht deshalb weit entfernt, weil das Gesicht
so klein wäre – das ist es nicht – sondern weil es aus einer ganz, ganz anderen
Welt herüberblickt.
Jetzt wieder ein Wechsel: eine sehr gealterte Lady Di.
Jetzt wieder die mit dem Loch im Kopf – es wiederholt sich.
Ein alter Mann noch, Halbprofil und traurig, den ich noch
nicht gesehen habe; aber jetzt lasse ich es und werde die Zeitung lesen.
Übrigens: beim Lesen der Zeitung habe ich statt „Die
Geschichte des `Fummels'“ (gemeint: Kleidungsstücke) „die Geschichte des
Fummelns“ gelesen.
(11.4.2019)
©Peter Alois Rumpf
April 2019
peteraloisrumpf@gmail.com
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