1181 Die Fenster sind beschlagen
Ich will schreiben, die Musik in ihren sanften
Gitarrenmeditationen sinkt vom Rand her in mein Bewußtsein ein und kräuselt die
mir liebste melancholische Lebenstrauer auf. Das nötige freundliche
Fremdheitsgefühl ist da und verändert den inneren akustischen Schwerpunkt und
läßt mir den Schauder den Rücken runter rieseln. Das ist ganz nahe am Glück des
gottlosen Pilgers. Des rastenden und eingekehrten Pilgers wohlgemerkt, wenn
nicht des müden, der dem einen Einkehrtag noch weitere folgen läßt.
Draußen ist es kalt und sonnig. Die Fenster sind beschlagen.
Jetzt sind die musikalischen Bläser dran (blöd, daß man „Bläser“ nicht mehr
ohne Umdeutungsassoziation denken kann.)
Mir kommt vor, alle meine Leidenschaften sind in
Wirklichkeit Süchte. Angefangen bei der Musik, bis hin zur gegenwärtigen
Breaking-Bad-Sucht, wo ich, wenn ich zu Hause bin – zu Beginn noch durch einen
Virenbefall, der mich zu Hause – um nicht zu schreiben: am Häusl – festgehalten
hat, verstärkt, eine Folge nach der anderen eingesaugt habe, so, daß ich schon
mehr im Film als in der bei mir sowieso recht schwach verankerten, ständig sich
aufzulösen drohenden Realität gelebt habe. Wenn ich zum Beispiel spät in der
Nacht nach dem Zähneputzen bei der Zahnpastatube den Verschluß draufschraube
und egal, ob ich die Tube versonnen, lässig, gleichgültig, cool oder wie auch
immer hinlege, schmeiße, deponiere – ich habe dabei das Gefühl, gerade ein Ding
gedreht zu haben. Und überhaupt: ein Loser, der zum Spitzenkriminellen mutiert
– das gibt für mich breite Identifizierungsmöglichkeiten. Wobei ein Job als
Mittelschullehrer aus meiner Sicht hier und jetzt schon eine Spitzenposition
wäre.
Bin ich unbestechlich? Nein, für einen Platz an dem ich wie
hier unbehelligt sitzen kann und nicht hinausgeworfen werde, bin ich bereit,
alles zu geben inklusive ewige Treue und Anhänglichkeit bis zum nächsten
Verrat.
Ich werde schon unruhig. Ich weiß nicht, wird es mir zu eng
und dicht hier? Habe ich Schuldgefühle, weil ich allein an einem der schönsten
drei-Plätze-Tischchen sitze, während das Lokal immer voller wird? Will ich mich
dann langsam im nicht allzu weit entfernt gelegenen Shop um meine Musiksucht kümmern?
Oder will ich nach Hause zu Walter White?
Die vielen disziplinierten jungen Leute rundherum sind
erfrischend. Schauder über den Rücken.
Nach zehn Minuten: Schauder über den Rücken.
Nach fünfzehn Minuten: Schauder über den Rücken.
Jetzt geh ich.
Nach ein paar Worte mit den Chef beim Bezahlen gehe ich
frisch hinaus. Auf der Straße treffe ich zufällig die erste Schwiegermutter
meiner Frau und winke ihr. Nachdem ich RHCP-beschleunigt bin, realisiere ich
erst nach ein paar Schritten, wie mühsam sie ihre Einkäufe schleppt, drehe um,
laufe ihr nach – was bei einem stark frequentierten Gehsteig gar nicht so
einfach ist – und frage sie, ob ich ihr tragen helfen soll. Sie verneint
(hoffentlich hat sie mich erkannt) und so wünsche ich ihr einen schönen Tag und
freue mich über die Begegnung und werde fast fromm.
Im Musikshop plaudere ich mit dem CD-Besteller, weil ich
immer so spezielle Bestellungen beziehungsweise oft erst Recherchen, ob es dies
oder das gibt, habe. Fast fühle ich mich als gleichwertiges Gegenüber und ich
bestelle und gehe fröhlich weiter zur U-Bahn.
Die Waggons sind gerammelt voll und weil ich gleich an der
nächsten Station wieder aussteigen werde, dränge ich mich als Letzter hinein
und bleibe gleich bei der Tür stehen, wo ich mich wie ein Türsteher hinstelle,
sodaß ein alter Mann, der einsteigen wollte, wieder abbiegt, ich jedoch drehe
mich zur Seite und mache eine einladende Geste zu ihm. Er nimmt mein Angebot an
und ich bin glücklich. Glücklich! So glücklich! (Und mir ist scheißegal, wenn
mein Glücksgefühl etwas mit der Erfahrung von Macht zu tun haben sollte! Ich
habe etwas Gutes (?) gemacht.)
Jubelnden Herzens steige ich an der nächsten Station um. Ich
bin glücklich!
(30.11.2018)
©Peter Alois Rumpf November
2018 peteraloisrumpf@gmail.com
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