Sonntag, 2. Dezember 2018

1181 Die Fenster sind beschlagen


Ich will schreiben, die Musik in ihren sanften Gitarrenmeditationen sinkt vom Rand her in mein Bewußtsein ein und kräuselt die mir liebste melancholische Lebenstrauer auf. Das nötige freundliche Fremdheitsgefühl ist da und verändert den inneren akustischen Schwerpunkt und läßt mir den Schauder den Rücken runter rieseln. Das ist ganz nahe am Glück des gottlosen Pilgers. Des rastenden und eingekehrten Pilgers wohlgemerkt, wenn nicht des müden, der dem einen Einkehrtag noch weitere folgen läßt.

Draußen ist es kalt und sonnig. Die Fenster sind beschlagen. Jetzt sind die musikalischen Bläser dran (blöd, daß man „Bläser“ nicht mehr ohne Umdeutungsassoziation denken kann.)

Mir kommt vor, alle meine Leidenschaften sind in Wirklichkeit Süchte. Angefangen bei der Musik, bis hin zur gegenwärtigen Breaking-Bad-Sucht, wo ich, wenn ich zu Hause bin – zu Beginn noch durch einen Virenbefall, der mich zu Hause – um nicht zu schreiben: am Häusl – festgehalten hat, verstärkt, eine Folge nach der anderen eingesaugt habe, so, daß ich schon mehr im Film als in der bei mir sowieso recht schwach verankerten, ständig sich aufzulösen drohenden Realität gelebt habe. Wenn ich zum Beispiel spät in der Nacht nach dem Zähneputzen bei der Zahnpastatube den Verschluß draufschraube und egal, ob ich die Tube versonnen, lässig, gleichgültig, cool oder wie auch immer hinlege, schmeiße, deponiere – ich habe dabei das Gefühl, gerade ein Ding gedreht zu haben. Und überhaupt: ein Loser, der zum Spitzenkriminellen mutiert – das gibt für mich breite Identifizierungsmöglichkeiten. Wobei ein Job als Mittelschullehrer aus meiner Sicht hier und jetzt schon eine Spitzenposition wäre.

Bin ich unbestechlich? Nein, für einen Platz an dem ich wie hier unbehelligt sitzen kann und nicht hinausgeworfen werde, bin ich bereit, alles zu geben inklusive ewige Treue und Anhänglichkeit bis zum nächsten Verrat.

Ich werde schon unruhig. Ich weiß nicht, wird es mir zu eng und dicht hier? Habe ich Schuldgefühle, weil ich allein an einem der schönsten drei-Plätze-Tischchen sitze, während das Lokal immer voller wird? Will ich mich dann langsam im nicht allzu weit entfernt gelegenen Shop um meine Musiksucht kümmern? Oder will ich nach Hause zu Walter White?

Die vielen disziplinierten jungen Leute rundherum sind erfrischend. Schauder über den Rücken.

Nach zehn Minuten: Schauder über den Rücken.

Nach fünfzehn Minuten: Schauder über den Rücken.

Jetzt geh ich.

Nach ein paar Worte mit den Chef beim Bezahlen gehe ich frisch hinaus. Auf der Straße treffe ich zufällig die erste Schwiegermutter meiner Frau und winke ihr. Nachdem ich RHCP-beschleunigt bin, realisiere ich erst nach ein paar Schritten, wie mühsam sie ihre Einkäufe schleppt, drehe um, laufe ihr nach – was bei einem stark frequentierten Gehsteig gar nicht so einfach ist – und frage sie, ob ich ihr tragen helfen soll. Sie verneint (hoffentlich hat sie mich erkannt) und so wünsche ich ihr einen schönen Tag und freue mich über die Begegnung und werde fast fromm.

Im Musikshop plaudere ich mit dem CD-Besteller, weil ich immer so spezielle Bestellungen beziehungsweise oft erst Recherchen, ob es dies oder das gibt, habe. Fast fühle ich mich als gleichwertiges Gegenüber und ich bestelle und gehe fröhlich weiter zur U-Bahn.

Die Waggons sind gerammelt voll und weil ich gleich an der nächsten Station wieder aussteigen werde, dränge ich mich als Letzter hinein und bleibe gleich bei der Tür stehen, wo ich mich wie ein Türsteher hinstelle, sodaß ein alter Mann, der einsteigen wollte, wieder abbiegt, ich jedoch drehe mich zur Seite und mache eine einladende Geste zu ihm. Er nimmt mein Angebot an und ich bin glücklich. Glücklich! So glücklich! (Und mir ist scheißegal, wenn mein Glücksgefühl etwas mit der Erfahrung von Macht zu tun haben sollte! Ich habe etwas Gutes (?) gemacht.)

Jubelnden Herzens steige ich an der nächsten Station um. Ich bin glücklich!









(30.11.2018)











©Peter Alois Rumpf     November 2018     peteraloisrumpf@gmail.com

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