652 Wie ich einmal ein junges Mädchen verfolgt habe
Ich werde sechszehn gewesen sein, allerhöchstens siebzehn.
Ich hatte es mir immer noch gefallen lassen, von meiner Mutter ausstaffiert zu
werden. Das ist ein ganz wichtiger Fakt! So hatte sie mir eine Kappe
aufgedrängt, von der sie behauptete, sie wäre modern und chic. Zunächst hatte
ich mich gewehrt, die aufzusetzten, aber schließlich gab ich nach und habe sie
getragen. Und sie ist gut angekommen. Meine Mutter hatte recht. Dann habe ich
diese Kappe ständig getragen.
Wir sind Anfang der Siebzigerjahre und ich war ein … ein
Bursche, der von Tuten und Blasen tatsächlich keine Ahnung hatte. Schüchtern,
weltfremd, lebensuntüchtig. Was macht man dann als junger Ma... Bursche?
Richtig! Man geht viel spazieren, noch dazu, wenn man Peter heißt (Schlager
1966: „er heißt Peter, und er geht so gern spaziehieren ...“). Oft bin ich mit
dem Kofferradio spazieren gegangen und habe jedoch nicht Schlager, sondern
Popmusik gehört.
Das, was ich jetzt erzähle, muß schon im Winter gewesen
sein, jedenfalls war es früh dunkel. Ich bin im Mantel mit hochgestelltem
Kragen und meiner Kappe herummarschiert, vielleicht habe ich auch eine Pfeife
geraucht. Soweit ich mich erinnere ohne Kofferradio. Ich hatte einen weiten Weg
gewählt, zuerst Richtung Gatschen, Quilk, dann abgebogen nach Winklern rüber
und über den Katzensteig, der schon eine schmale Straße war, wieder nach
Irdning zurück.
Nein, nein, es war anders! Ich bin die Lindenallee
heraufgekommen und dann in die Klostergasse Richtung Ortsmitte weiter gegangen.
Und das unbekannte Mädchen ist aus der Winklerner Richtung die Klostergasse
herunter gekommen. So war es. Jetzt glaube ich es genau zu wissen.
Jedenfalls war das Mädchen in meinen Augen sehr hübsch. Und
sonst waren keine Leute mehr unterwegs. Sie ist in deutlichem Abstand vor mir
gegangen. Festzuhalten ist, daß sich das zufällig ergeben hat, daß ich hinter
dem Mädchen hergegangen bin; das war einfach mein Weg nach Hause.
Bei mir ist gleich soetwas wie ein innerer Film abgelaufen,
eine Art „Lehrfilm“ über das richtige Verhalten Frauen gegenüber. Natürlich war
dieser „Lehrfilm“ eine fremde Installation, zusammengestückelt aus all dem, was
einem als Aufwachsenden damals am Land
erzählt und vorgespielt wurde oder auch richtig anzuerziehen versucht.
„Die mußt du jetzt ansprechen! Das ist deine Chance! Du kannst nicht ständig
und ewig als dieser Schüchti und Trauminet herumrennen; du mußt ein Mann werden!
So wie der, und der, und der da! So eine Gelegenheit gibt es so schnell nicht
wieder! Schau! Sie hat sich umgedreht! Sie ist auch an dir interessiert! Deine
coole Kappe - „cool“ hat hat man damals natürlich noch nicht gesagt – diese
coole Kappe und der aufgestellte Kragen haben Eindruck gemacht! Los! Trau
dich!“
Aber ich habe mich nicht getraut. Verdammt! Verdammt!
Verdammt! „Da schau! Sie dreht sich wieder um! Sie ist an dir interessiert! Du
gefällst ihr! Sprich sie an! So machen es doch alle! Willst du ewig dieses
traurige Lehmlocherl sein?!“
So ist es eine zeitlang in mir hin und her gegangen. Wir
haben inzwischen den Marktplatz, wo damals auch die Autobushaltestelle war, mit
dem Kirchpark erreicht. Ich nehme alle meine Kraft zusammen, meinen ganzen Mut
und spreche das Mädchen an. Was ich gesagt habe, weiß ich nicht mehr – nur das
weiß ich noch: es war ein fürchterliches Gestottere. Ich habe gezittert vor
Angst und Aufregung und nur mit Gewalt ein paar gestammelte Wörter
herausgebracht, nur mit Gewalt! (gegen mich selber. Ich mußte mir einen festen Tritt verpassen, daß ich ein Wort herausgebracht habe. Unter solch stressigen Bedingungen nimmt man sein Gegenüber nicht oder kaum wahr.) Sie hat geantwortet, aber ein Gespräch ist so,
unter diesen Vorzeichen, natürlich nicht entstanden. Ich habe schon nicht mehr
gewußt, was ich sagen soll – wenn ich mich richtig erinnere habe ich
hauptsächlich Fragen gestellt – das Ganze hatte schon mehr Verhörcharakter,
kommt mir jetzt nachträglich vor – zum Beispiel, woher sie komme. Aus Stainach.
Was sie mache. Auf den Bus warten.
Dann ist ein kleiner roter Mini die Straße heruntergefahren,
das Mädchen läuft weg, zum Auto hin, eine Bekannte von ihr sitzt am Steuer, sie hält sie auf und fragt, ob sie
sie nach Stainach mitnehme.
Was heißt fragt! In Panik hat sie das ausgerufen und ist
dann schnell ins Auto gestiegen.
Erst da habe ich kapiert, daß dieses Mädchen die ganze Zeit
vor mir Angst hatte. Daß jemand vor mir Angst hat, das ist etwas, was ich mir
überhaupt nicht vorstellen kann. Bis heute nicht wirklich. Ich bin es doch, der
Angst hat!
Aber jetzt hatte ich es verstanden, daß sie den ganzen Weg
schon Angst hatte und sich nicht aus Interesse oder Neugier umgedreht hatte,
sondern aus Panik, daß der Verfolger schon näher kommt. Ich war völlig perplex!
Gottseidank war und bin ich ein schüchterner Mensch. Sofort
wie ich es kapiert habe, habe ich mich erschrocken zurückgezogen. Hätte ich das
früher schon verstanden, hätte ich sie gar nicht angesprochen. Wenn ich es im
Moment gemerkt hätte, in dem ich sie angesprochen habe, hätte ich mich
entschuldigt und wäre sofort weggegangen. Schon als so etwas wie Mutters Ein
und Alles – allerdings bei sofortigem Widerruf bei Versagen – von Größenwahn
infiziert, aber vom Leben bereits schmerzhaft in die Schranken verwiesen, renne
ich nicht mit der Vorstellung herum, daß mir alle Weiber zustehen. Wiewohl es
meinem Affenego gefallen würde.
Ich konnte das kaum begreifen! Ich war es doch, der Angst
hatte! Das Mädchen wirkte auf mich cool und souverän. Sie hatte Angst vor mir?! Dazu fällt mir noch die
Feststellung von Marshall Rosenberg ein, daß die Angst in den Augen des einen
beim andern fast immer, immer als Aggression wahrgenommen wird.
Außerdem: das ist festzuhalten: kaum hatte ich beim
Spaziergang das Mädchen gesehen, habe ich meine Aufmerksamkeit auf sie
fokussiert; ich bin nicht mehr einfach nur unschuldig spazieren gegangen.
Dieses Aufmerksamkeit-Ausrichten ist schon so etwas wie zielen, auch wenn ich –
das ist mir wichtig, es noch einmal zu betonen – von meinem Vorhaben, sie
anzusprechen, sofort abgelassen hätte, wenn ich wahrgenommen hätte, daß sie
Angst hat.
Was wäre gewesen, wenn tatsächlich ein Gespräch zustande
gekommen wäre – ohne Angst bei ihr? Ich selber hätte erst recht Angst gehabt und wäre
mit meinem Latein schnell am Ende gewesen.
Ein paar Tage später richtet mir meine Schwester – die
Austreiberin in der Familie – AustreiberIn: das ist ein astrologischer Begriff
in der Münchner Rhythmenlehre – richtet mir also meine Schwester Grüße von der
Soundso aus Stainach aus. Wie sich herausgestellt hatte, besuchte das
angesprochene Mädchen die selbe Schule wie meine Schwester und war erst
dreizehn Jahre alt. Das war noch ein extra Schock; ich hätte sie für viel
älter, so in meinem Alter eingeschätzt. Noch dazu beim Mittagessen vor
versammelter Familie hat das meine Schwester ausgerichtet und erzählt, das
Mädchen habe ihr gesagt, daß ich sie verfolgt und angesprochen habe (wie sich
das für eine Austreiberin gehört). Die Grüße waren natürlich ironisch gemeint
und provokativ, im Sinne einer Warnung: ich weiß jetzt, wer du bist!
Das war mir jetzt ausgesprochen unangenehm! Ich habe es
einfach verleugnet und behauptet, es müsse eine Verwechslung sein. Ich glaube,
meine Mutter, die es nicht erwarten konnte, daß ich endlich männlich werde und
anfange – wie sie es gern formuliert hat – mir „die Hörner abzustoßen“, hat
auch noch ihren Senf dazu gegeben, natürlich mich verteidigend, so in dem Sinn,
daß ein Bursche schon ein Mädchen ansprechen darf. Das ist wichtig – es sind
meistens die Mütter, die solche Söhne aufstacheln und aufhussen.
Das Ganze war mir furchtbar unangenehm. Ich habe meinen
„Blick in die Weite“ aufgesetzt, den mit den zusammengezwickten Augen, als tät'
ich ernsthaft etwas zu erinnern versuchen, aus irgendwelchen Fernen herbeiholen
oder aus irgendwelchen Tiefen hervorholen.
Und genau gesagt: es ist mir diese Szene, wie ich das
Mädchen verfolgt und angesprochen habe, noch heute unangenehm und auch meine
Feigheit vor der Familie.
(1./2.4.2017)
©Peter Alois Rumpf
April 2017
peteraloisrumpf@gmail.com
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