370 Die Frage nach der Uhrzeit
Ein zum Teil stoßweise rauschendes Flugzeug entfernt sich
wieder aus den Höhen über mir. Wieder einmal diese unglaubliche Stille mitten
in der Nacht mitten in der Stadt. Ich warte. Worauf, das weiß ich selber nicht
so genau, oder will es nicht wissen. Manchmal denke ich so, manchmal denke ich
so.Was ich denke hat nicht allzuviel damit zu tun, was wirklich kommt. Was ich
empfinde, vermutlich schon mehr.
Ich spiele lieber die zweite Geige. Ich reagiere lieber, als
daß ich vorgebe.
Trotz allem, ich glaube, diese Sätze sind nicht falsch.
Die Augen fallen mir zu.
Mit mir ist kein Staat zu machen.
Friedliches Aufwachen. Die innere Frage nach der Uhrzeit versetzt
mich augenblicklich in Panik. Daß sich alles nicht ausgeht. Es schmeckt wie die
alte Schulangst. Das sind 20.358 Tage seit meinem ersten Schultag. 20.358 Tage!
Den Kindergarten müßten wir auch dazurechnen, denn der war schon der reine
Horror. Nichts ist da, alles ist weg in der Panik; mühsam und angestrengt
versuche ich mich von Gedanken zu Gedanken zu hanteln. Um mich rauszuziehen.
Seele und Körper gibt es nicht, nur irgendetwas da am Rand. Nur aus den
Augenwinkeln vage wahrgenommen. Wer hat da wegen was angerufen? Dabei war gar
kein Anruf, wie ich mir nach ein paar Minuten angestrengten Nachdenkens klar
machen konnte. Ich bin hauptsächlich außer mir und beruhige mich kaum. Wellen
der Angst laufen über mich drüber und durch mich hindurch, so genau weiß ich
das nicht, denn ich spüre mich kaum. Eine Welle nach der anderen.
Jetzt erst fällt mir ein: atmen!
Das wiederholte Singen einer Amsel zieht allmählich mehr Gegenwärtigkeit herein. Ein tiefer, stoßender Atemzug, wie bei Kindern nach heftigem Weinen. Nur daß ich nicht geweint habe. 20.358 Tage nicht geweint, obwohl mir zum Heulen zumute war. Jetzt hole ich das auch nicht mehr auf. Ich glaube, ich werde das Fenster öffnen.
Das wiederholte Singen einer Amsel zieht allmählich mehr Gegenwärtigkeit herein. Ein tiefer, stoßender Atemzug, wie bei Kindern nach heftigem Weinen. Nur daß ich nicht geweint habe. 20.358 Tage nicht geweint, obwohl mir zum Heulen zumute war. Jetzt hole ich das auch nicht mehr auf. Ich glaube, ich werde das Fenster öffnen.
Jetzt erst merke ich, ich bin schweißgebadet. Diese Angst
muß noch älter, ursprünglicher sein als die Schulangst. Existenzangst,
Lebensangst, was gibt es noch? Dann sind es 22.743 Tage. Oder noch mehr, wenn
man die Schwangerschaft dazuzählt.
Zurückgeblieben ist eine schale, dumpfe, stumpfe Leere, in
deren Kern noch die namenlose Angst vibriert. Diese Leere schmeckt nicht gut,
hat viel von Scham und Aufgeben an sich, so in dem Stil „aus dir wird ja doch
nichts!“ Von da schaut überleben wie Feigheit aus. Der Kapitän hat mit seinem
gesunkenen Schiff unterzugehen. Dabei ist das Schiff nur ein Ding, und doch,
womit soll ich durch die Weltenmeere fahren? Über sechzig Jahre ein
Ertrinkender. Im Ozean, nie Boden unter den Füßen, nie gerettet. Ertrinken in
Extremzeitlupe.
Das Einzige, das ich genießen kann, sind die Pausen zwischen
den langen Sekunden.
Jetzt rufen mir die Krähen gleich ihre Botschaften zu, die
ich leider nicht verstehe.
Nebenan klopft jemand dreimal an die Tür, es wird ihm aber
nicht aufgetan.
Ich selber, ich fliehe in einen Tagtraum.
©Peter Alois Rumpf Mai/Juni 2016 peteraloisrumpf@gmail.com
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