2942 So ist es halt!
9:27 a.m. Ich starre in die Fülle und ich starre in die
Leere. Die Fülle ist unser trinitarischer Wohnzimmerbaum, die Leere die große,
weiße Wand. Ein Wecker tickt, auch wenn ich das Ticken – vermutlich aus
akusto-architektonischen Gegebenheiten der Schlafkoje – aus der falschen
Richtung höre. Aber immerhin behauptet es sich gegen mein Ohrensurren. Schade,
dass das Radio zu quatschen anfängt; zwar verstehe ich aus der Entfernung
nichts vom Gerede, aber mein Geist, der sich sammeln will, ist gestört. Das ist
nicht so schlimm: entweder lernt er, sich auch unter erschwerten Bedingungen zu
sammeln, oder er versucht es ein andermal.
Nun sehe ich auch mäßig verdunkelnde Schatten an der großen
Wand, wobei ich nicht sicher bin: sind die wirklich dort an der Wand, oder
werden sie von meinem Blick und meiner Augenpsycho- oder -physiologie erzeugt
(denn manchmal habe ich den undeutlichen und deswegen nicht eindeutigen Eindruck,
dass sie sich bewegen). Natürlich können sie auch realiter dort an der Wand
sein und mein Blick macht an ihnen herum. Jetzt jedoch sehe ich hellere Flecken
stärker hervorgehoben, als würden die aus sich heraus ein wenig zu leuchten
beginnen. War das jetzt ein winziges Insekt, das ich da kurz herumfliegen
gesehen habe, oder eine andere Anwesenheit, die für einen Augenblick aus
anderen Dimensionen der Wirklichkeit aufgetaucht ist und wieder verschwunden?
Oder irgendeine Trübung meiner Netzhaut oder auf der Linse oder auf meiner
Seele? Die weiße Wand ist nicht leer: da passiert einiges: diese leuchtenden
Flecken werden stärker und schwächer, dehnen sich aus und ziehen sich wieder
zusammen, wandern ein wenig über die Wand. Aber auch sonst vibriert die Wand von
einer mehr geahnten als erfaßten Dynamik. Weil alles fließt?
Im Vergleich zu dieser leeren Wand schauen die lebenden
Zimmerpflanzen starr, unbewegt und zu Tode definiert aus. Ich bin sicher, auch
da ist in Wirklichkeit viel mehr los, als ich es jetzt wahrnehme – trotz ihrem
vergleichsweise elenden Zimmerpflanzendasein. Aber da brauche ich mich nicht
groß melden: kosmisch gesehen ist mein Dasein auch nicht freier als das einer
eingetopften Zimmerpflanze, die unter natürlichen Bedingungen hier in diesem Klima
keine Chance hätte. Mehr: die hier gar nicht gewachsen wäre. Sie wäre nicht
hier. „Du hast keine Chance, aber nutze sie!“ (Danke, Herr Achternbusch, oder
von wem diesen Spruch wirklich ist.) (Zum Beispiel könnte ja ein betrunkener
Gast in einem Münchner Lokal beim Wirten an der Bar noch einen Schnaps geordert
haben, aber der Wirt sagt: „Na, Remigius! Du hast scho gnua intus!“ Der Gast:
„Na geh bitte!!!“ (oder wie das halt auf Bairisch heißt). Darauf der Wirt: „Na!
Du hast da keine Chance!“ und geht darauf nach hinten um irgendwas zu holen,
worauf der betrunkene Gast die Schapsflasche schnappt und sich noch eine
Dreifachen einschenkt und dazu sagt: „du hast keine Chance, aber nutze sie!“
Oder ein anderer Gast, der die Szene beobachtet, sagt das. Und seitdem kursiert
der Spruch in der Münchner Lokalszene. Oder es war gar nicht in München,
sondern in Stinatz, Sinabelkirchen oder Graz. Oder es war ganz anders. Oder der
Achternbusch war der eine oder der andere. Oder es war komplett, völlig und
überhaupt ganz anders …) (Auch Zimmerpflanzen nützen ihre Nicht-Chance: sie
wachsen, leben, vermehren ihr Bewußtsein durch ihre möglicherweise bescheidenen
Lebenserfahrungen und geben bei ihrem Tod ihr durch ihre Erfahrungen
angereichertes Bewußtsein dem Universum zurück, das seinerseits sein eigenes
Bewußtsein damit vermehrt und erweitert.)
(22.10.2022)
©Peter Alois Rumpf Oktober 2022
peteraloisrumpf@gmail.com
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