Samstag, 22. Oktober 2022

2942 So ist es halt!

 

9:27 a.m. Ich starre in die Fülle und ich starre in die Leere. Die Fülle ist unser trinitarischer Wohnzimmerbaum, die Leere die große, weiße Wand. Ein Wecker tickt, auch wenn ich das Ticken – vermutlich aus akusto-architektonischen Gegebenheiten der Schlafkoje – aus der falschen Richtung höre. Aber immerhin behauptet es sich gegen mein Ohrensurren. Schade, dass das Radio zu quatschen anfängt; zwar verstehe ich aus der Entfernung nichts vom Gerede, aber mein Geist, der sich sammeln will, ist gestört. Das ist nicht so schlimm: entweder lernt er, sich auch unter erschwerten Bedingungen zu sammeln, oder er versucht es ein andermal.

Nun sehe ich auch mäßig verdunkelnde Schatten an der großen Wand, wobei ich nicht sicher bin: sind die wirklich dort an der Wand, oder werden sie von meinem Blick und meiner Augenpsycho- oder -physiologie erzeugt (denn manchmal habe ich den undeutlichen und deswegen nicht eindeutigen Eindruck, dass sie sich bewegen). Natürlich können sie auch realiter dort an der Wand sein und mein Blick macht an ihnen herum. Jetzt jedoch sehe ich hellere Flecken stärker hervorgehoben, als würden die aus sich heraus ein wenig zu leuchten beginnen. War das jetzt ein winziges Insekt, das ich da kurz herumfliegen gesehen habe, oder eine andere Anwesenheit, die für einen Augenblick aus anderen Dimensionen der Wirklichkeit aufgetaucht ist und wieder verschwunden? Oder irgendeine Trübung meiner Netzhaut oder auf der Linse oder auf meiner Seele? Die weiße Wand ist nicht leer: da passiert einiges: diese leuchtenden Flecken werden stärker und schwächer, dehnen sich aus und ziehen sich wieder zusammen, wandern ein wenig über die Wand. Aber auch sonst vibriert die Wand von einer mehr geahnten als erfaßten Dynamik. Weil alles fließt?

Im Vergleich zu dieser leeren Wand schauen die lebenden Zimmerpflanzen starr, unbewegt und zu Tode definiert aus. Ich bin sicher, auch da ist in Wirklichkeit viel mehr los, als ich es jetzt wahrnehme – trotz ihrem vergleichsweise elenden Zimmerpflanzendasein. Aber da brauche ich mich nicht groß melden: kosmisch gesehen ist mein Dasein auch nicht freier als das einer eingetopften Zimmerpflanze, die unter natürlichen Bedingungen hier in diesem Klima keine Chance hätte. Mehr: die hier gar nicht gewachsen wäre. Sie wäre nicht hier. „Du hast keine Chance, aber nutze sie!“ (Danke, Herr Achternbusch, oder von wem diesen Spruch wirklich ist.) (Zum Beispiel könnte ja ein betrunkener Gast in einem Münchner Lokal beim Wirten an der Bar noch einen Schnaps geordert haben, aber der Wirt sagt: „Na, Remigius! Du hast scho gnua intus!“ Der Gast: „Na geh bitte!!!“ (oder wie das halt auf Bairisch heißt). Darauf der Wirt: „Na! Du hast da keine Chance!“ und geht darauf nach hinten um irgendwas zu holen, worauf der betrunkene Gast die Schapsflasche schnappt und sich noch eine Dreifachen einschenkt und dazu sagt: „du hast keine Chance, aber nutze sie!“ Oder ein anderer Gast, der die Szene beobachtet, sagt das. Und seitdem kursiert der Spruch in der Münchner Lokalszene. Oder es war gar nicht in München, sondern in Stinatz, Sinabelkirchen oder Graz. Oder es war ganz anders. Oder der Achternbusch war der eine oder der andere. Oder es war komplett, völlig und überhaupt ganz anders …) (Auch Zimmerpflanzen nützen ihre Nicht-Chance: sie wachsen, leben, vermehren ihr Bewußtsein durch ihre möglicherweise bescheidenen Lebenserfahrungen und geben bei ihrem Tod ihr durch ihre Erfahrungen angereichertes Bewußtsein dem Universum zurück, das seinerseits sein eigenes Bewußtsein damit vermehrt und erweitert.)

 

(22.10.2022)

©Peter Alois Rumpf  Oktober 2022   peteraloisrumpf@gmail.com

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