1865 Vor und Au
Zum Frühstück: „Kann ich mir deinen Löffel ausborgen? Ich
hab meinen schon abgegeben!“
„Ja, ja!“
Erstaunlich: heute bin ich vor sechs Uhr aufgewacht und dann
aufgestanden, bin die paar Schritte zum herrlichen, herrschaftlichen und
Chorherrenstift hinauf und habe die prächtige Anlage (N, O, S, W) umrundet.
Die Wiesen im Morgentau und auf den Bergen (oststeirisch
gesprochen – ennstalerisch würden die Berge unter Anführungszeichen stehen –
unterstell ich mal) rundum steigt der Nebel hoch und versucht sich zu
verflüchtigen. Die wunderschöne und so schön ausstrahlende Sonne, das Gemüt und
Herz angreifende, will sagen berührende Wesen. Die Wiesen, Wälder und Felder so
lieblich hingelegt, über sanfte und robustere Hügel erstreckt (ob die robusten
Hügel bei Dauerregen zum Beispiel wirklich die robusteren sind, oder nicht doch
als erste abrutschen?).
Ich weide meine Augen. Ich denke: kultivierte Natur. Die
Menschen lehne ich neuerdings heftig ab, ihre Landschaften liebe ich –
zumindest von der Weiten.
Aber auch ich habe hier Vorfahren in den Gräbern. Ich war
heute dort, habe eine Kerze hingestellt, die Ahnen beschimpft und für sie
zornig und lieblos gebetet.
Vorher noch war ich bei einer Friseurin, die mir (wem
sonst?) ihr Seepferdchen gezeigt hat. Auf ihren rechten Busen tätowiert.
Nun sitze ich nach einem großen Mittagessen am Balkon des
Hotelzimmers, die Beine auf einen zweiten Sessel ausgestreckt (das Arrangement
von meinem Weibe übernommen) und blicke zum Marktflecken hinunter in den Graben
und hinauf, gaffe direkt zur Pfarrkirche hinüber – ich schätz, ich bin auf
Augenhöhe – auch mit dem Baukran davor, bis hinauf zum alten Rathaus, suche den
kindheitsvertrauten Weg zum alten Bad, drehe den Blick zum neuen Bad mir seiner
58 Meter Rutsche – in gut 25, 30 Jahren inzwischen auch schon alt geworden – so
gut kenn ich die Jahreszahlen nicht – streife noch die hohen, bewaldeten Hügel
mit ihren hineingeschnittenen Wiesenflächen und Getreidefeldern.
Der Himmel wird mehr und mehr bewölkt, ich schaue noch auf
den letzten Sonnenflecken dort links auf der Wiese und seinen scharfen Schatten
der randständigen Bäume, verfolge ihn in den Wald hinauf, wo er sich fast
verliert und dann wieder derfängt und herunter in den tiefen Graben wandert,
auf halbem Weg vom Untermarkt zum Obermarkt hoch bei der Pfarrkiche innehält
und die und ihren Vorplatz fromm beleuchtet (oder frech? Wer weiß.), dann
wirklich weiter bis zum Rathaus schleicht und sich im Rathauspark vergißt.
Ich betrachte unter mir zwei junge Amseln, schaue einer Frau
beim Rasenmähen auf den Rücken – alles von oben herab und den Nordhang hinunter
– nun kommt das Licht nochmals in den Untermarkt – ich denke: für jetzt ist es
genug!
(6./8.6.2020)
©Peter Alois Rumpf,
Juni 2020
peteraloisrumpf@gmail.com
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