1850 Die albertinische Eröffnung
Vormittag. Die Tageskinder spielen „Mama-Weinen“, ein
herrliches Konzert von vergnügten Heultönen auf m a m a oder i.
Oh! Jetzt gibt es ein richtiges Aua! Der Chor verstummt
betroffen. Und das betroffene Kind weint in echt.
Ich habe gedacht, ich werde aufjubeln und losstarten, wenn
die Albertinas (wieder) öffnen. Aufgejubelt habe ich, aber nun zögere ich mit
meinem lange ersehnten Besuch. Warum? Ich frage mich das, horche in mich hinein
und stelle fest: Angst! Ich kann nicht mehr bei meiner alten Gewohnheit, ein
oder zweimal die Woche in die Räume mit den tollen Bildern einzutauchen, mich
hinzusetzen, die Bilder anschauen (auch den Frauen auf den Arsch), schreiben,
vor meinen Lieblingsbildern (Kokoschkas Städtebilder) zu verweilen, anknüpfen.
Wie gibt es das! Anscheinend wurde meine energetisch-psychischen
„Nerven“verbindungen zur Albertina durch den Lockdown gekappt, oder sind
mangels Erneuerung abgestorben. Diese verdorrten „Nerven“verbindungen betreffen
nicht nur die Albertina als Haus der Kunst, also die Kunstwerke, sondern auch
das herrschaftliche Gebäude, ihren Ruf und ihre Stellung in Stadt und
Gesellschaft, als öffentlicher Raum, auch ihre Organisation, ihren Schwellen-
und Eingangsbereich, ihre Garderobe und deren Personal, ihre
Kartenkontrolleurinnen und AufseherInnen, die Sphinxen, die Besucher und Innen.
Ich werde fast neu beginnen müssen: den Stress, ein fremdes,
ehrwürdiges Haus zu betreten neu überwinden; bei der Garderobe, die ich als
Jahreskartenbesitzer gratis benutzen darf, den Stress, dass ich hier bedient
werde, obwohl ich mich dessen nicht würdig fühle, aushalten, ohne allzusehr in
Verlegenheitsgeblödel zu kommen, um meine Unwürdigkeit ja gleich aufzudecken,
den Stress, weil ich so lange mit dem Umräumen meiner Sachen – die, die ich
mithinein nehme, in mein Albertinatäschchen stecken, Brille, Schreibzeug,
Handy, Jahreskarte und Personalausweis nicht vergessen! - brauch und dabei alle
wichtigen Leute hinter mir aufhalte. Das Gefühl, ich müßte dem
Garderobenpersonal ein saftiges Trinkgeld geben, aber zögere doch, weil ich es
noch bei keinem Jahreskartler gesehen habe und mich auch nicht so herum
peinlich machen will. Die innere Aufregung bei der Kartenkontrolle – überall wo
kontrolliert wird, habe ich Schuldgefühle – vermutlich, weil ich im tiefsten
Inneren überzeugt bin, dass ich nicht leben dürfte. Dasselbe mit den Aufsehern
und Aufseherinnen: vielleicht merken sie, dass ich Unwürdiger kein wirkliches
Anwesenheitsrecht habe, sondern bloß ein erschwindeltes, denn ich habe die
Jahreskarte nicht selbst bezahlt – ich
könnte sie mir nicht leisten – sondern meine Frau hat sie mir geschenkt
und bei meinen allerersten Schritten in die Albertina geholfen – einfach
dadurch, dass wir zusammen hingegangen sind - außerdem mach ich mich sicher mit
meiner Schreiberei und den Stiften in der Hand verdächtig (warum glaube ich,
dass jemand denken könnte, ich würde ein Kunstwerk zerstören wollen? Warum
befürchte ich das? Das ist so absurd! Ich, der ich Bilder so liebe! Das kann
nicht aus mir als Individuum kommen! Die Schuld muß mir von den Nazivorfahren
als Kuckucksei ins Nest gelegt worden sein! Die haben alles zerstört und
gemordet! Nicht ich! Ich trage deren Schuld herum! Zum Teufel mit euch
Gesindel! Geht weg!). Ich hatte mich dann auch einmal einer Aufseherin
gegenüber wegen meiner Schreiberei dort erklärt und es sogar geschafft, mich
dabei als Schriftsteller auszugeben! Auch nicht ganz frei von Peinlichkeit.
Ich muß wieder fast ganz von vorne beginnen. Gut. Jetzt weiß
ich es und stelle mich darauf ein.
Nur eines ist mir noch wichtig festzuhalten und der Welt
klar zumachen und heute deutlich aufgefallen: Depression ist nicht einfach nur
– wie man sich das landläufig so vorstellt – daß da jemand heulend herumsitzt –
was ja auch sein kann – aber es gibt noch andere Konstellationen: denn mein
Geist war ja voll Freude auf die Albertina, ich wollte losstarten, voller
Tatendrang und Optimismus, aber mein – wie kann ich das nennen? -
psychophysischer Apparat hat nicht mitgemacht. Denn ich habe die lähmende Angst
ganz deutlich und körperlich in meiner Leibesmitte gespürt. Wie einen schweren
Klotz, der mich nicht auftauchen läßt. Ein Verzweifelter kann euch ins Gesicht
lachen und Witze über sich machen, besonders, wenn es sich auch schuldig fühlt,
die anderen mit seinem Leiden zu belästigen, und ihr denkt euch: dem geht’s eh
gut. Er schämt sich seiner Krankheit,
weil sie euch irritiert, er will euch vor seiner Verzweiflung schützen. Wobei
es schon sein kann, dass mit dem Lachen über sich selbst sich ein Verzweifelter
herausreißt! Bedenkt jedoch, was der die ganze Zeit für eine anstrengende
Arbeit hat, nur halbwegs oder zu fünf Prozent mit dem Leben und der
Wirklichkeit zu Rande zukommen!
Heute bin ich nicht in die Albertina gegangen. Heute
verlasse ich die Wohnung nicht, sammle meine Kräfte für einen neuen Versuch,
einen neuen Anlauf.
Aber dieses elende, scheißverfluchte Gefühl der eigenen
Unwürdigkeit!
(28.5.2020)
©Peter Alois Rumpf, Mai 2020
peteraloisrumpf@gmail.com
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