Donnerstag, 28. Mai 2020

1850 Die albertinische Eröffnung


Vormittag. Die Tageskinder spielen „Mama-Weinen“, ein herrliches Konzert von vergnügten Heultönen auf m a m a oder i.
Oh! Jetzt gibt es ein richtiges Aua! Der Chor verstummt betroffen. Und das betroffene Kind weint in echt.

Ich habe gedacht, ich werde aufjubeln und losstarten, wenn die Albertinas (wieder) öffnen. Aufgejubelt habe ich, aber nun zögere ich mit meinem lange ersehnten Besuch. Warum? Ich frage mich das, horche in mich hinein und stelle fest: Angst! Ich kann nicht mehr bei meiner alten Gewohnheit, ein oder zweimal die Woche in die Räume mit den tollen Bildern einzutauchen, mich hinzusetzen, die Bilder anschauen (auch den Frauen auf den Arsch), schreiben, vor meinen Lieblingsbildern (Kokoschkas Städtebilder) zu verweilen, anknüpfen. Wie gibt es das! Anscheinend wurde meine energetisch-psychischen „Nerven“verbindungen zur Albertina durch den Lockdown gekappt, oder sind mangels Erneuerung abgestorben. Diese verdorrten „Nerven“verbindungen betreffen nicht nur die Albertina als Haus der Kunst, also die Kunstwerke, sondern auch das herrschaftliche Gebäude, ihren Ruf und ihre Stellung in Stadt und Gesellschaft, als öffentlicher Raum, auch ihre Organisation, ihren Schwellen- und Eingangsbereich, ihre Garderobe und deren Personal, ihre Kartenkontrolleurinnen und AufseherInnen, die Sphinxen, die Besucher und Innen.
Ich werde fast neu beginnen müssen: den Stress, ein fremdes, ehrwürdiges Haus zu betreten neu überwinden; bei der Garderobe, die ich als Jahreskartenbesitzer gratis benutzen darf, den Stress, dass ich hier bedient werde, obwohl ich mich dessen nicht würdig fühle, aushalten, ohne allzusehr in Verlegenheitsgeblödel zu kommen, um meine Unwürdigkeit ja gleich aufzudecken, den Stress, weil ich so lange mit dem Umräumen meiner Sachen – die, die ich mithinein nehme, in mein Albertinatäschchen stecken, Brille, Schreibzeug, Handy, Jahreskarte und Personalausweis nicht vergessen! - brauch und dabei alle wichtigen Leute hinter mir aufhalte. Das Gefühl, ich müßte dem Garderobenpersonal ein saftiges Trinkgeld geben, aber zögere doch, weil ich es noch bei keinem Jahreskartler gesehen habe und mich auch nicht so herum peinlich machen will. Die innere Aufregung bei der Kartenkontrolle – überall wo kontrolliert wird, habe ich Schuldgefühle – vermutlich, weil ich im tiefsten Inneren überzeugt bin, dass ich nicht leben dürfte. Dasselbe mit den Aufsehern und Aufseherinnen: vielleicht merken sie, dass ich Unwürdiger kein wirkliches Anwesenheitsrecht habe, sondern bloß ein erschwindeltes, denn ich habe die Jahreskarte nicht selbst bezahlt – ich  könnte sie mir nicht leisten – sondern meine Frau hat sie mir geschenkt und bei meinen allerersten Schritten in die Albertina geholfen – einfach dadurch, dass wir zusammen hingegangen sind - außerdem mach ich mich sicher mit meiner Schreiberei und den Stiften in der Hand verdächtig (warum glaube ich, dass jemand denken könnte, ich würde ein Kunstwerk zerstören wollen? Warum befürchte ich das? Das ist so absurd! Ich, der ich Bilder so liebe! Das kann nicht aus mir als Individuum kommen! Die Schuld muß mir von den Nazivorfahren als Kuckucksei ins Nest gelegt worden sein! Die haben alles zerstört und gemordet! Nicht ich! Ich trage deren Schuld herum! Zum Teufel mit euch Gesindel! Geht weg!). Ich hatte mich dann auch einmal einer Aufseherin gegenüber wegen meiner Schreiberei dort erklärt und es sogar geschafft, mich dabei als Schriftsteller auszugeben! Auch nicht ganz frei von Peinlichkeit.

Ich muß wieder fast ganz von vorne beginnen. Gut. Jetzt weiß ich es und stelle mich darauf ein.

Nur eines ist mir noch wichtig festzuhalten und der Welt klar zumachen und heute deutlich aufgefallen: Depression ist nicht einfach nur – wie man sich das landläufig so vorstellt – daß da jemand heulend herumsitzt – was ja auch sein kann – aber es gibt noch andere Konstellationen: denn mein Geist war ja voll Freude auf die Albertina, ich wollte losstarten, voller Tatendrang und Optimismus, aber mein – wie kann ich das nennen? - psychophysischer Apparat hat nicht mitgemacht. Denn ich habe die lähmende Angst ganz deutlich und körperlich in meiner Leibesmitte gespürt. Wie einen schweren Klotz, der mich nicht auftauchen läßt. Ein Verzweifelter kann euch ins Gesicht lachen und Witze über sich machen, besonders, wenn es sich auch schuldig fühlt, die anderen mit seinem Leiden zu belästigen, und ihr denkt euch: dem geht’s eh gut. Er schämt sich  seiner Krankheit, weil sie euch irritiert, er will euch vor seiner Verzweiflung schützen. Wobei es schon sein kann, dass mit dem Lachen über sich selbst sich ein Verzweifelter herausreißt! Bedenkt jedoch, was der die ganze Zeit für eine anstrengende Arbeit hat, nur halbwegs oder zu fünf Prozent mit dem Leben und der Wirklichkeit zu Rande zukommen!

Heute bin ich nicht in die Albertina gegangen. Heute verlasse ich die Wohnung nicht, sammle meine Kräfte für einen neuen Versuch, einen neuen Anlauf.

Aber dieses elende, scheißverfluchte Gefühl der eigenen Unwürdigkeit!










(28.5.2020)











©Peter Alois Rumpf,  Mai 2020  peteraloisrumpf@gmail.com

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