Donnerstag, 14. Mai 2020

1835 Nullkommaein Prozent


Vor ein paar Tagen oder Wochen fand ich in meinem Bücherregal das Buch „Der gedehnte Blick“ von Wilhelm Genazino. Autor und Buch waren mir völlig unbekannt und ich kann mich auch nicht erinnern, jemals irgendwo etwas vom Autor oder diesem Buch gehört oder gelesen zu haben. Darum vermute ich auch, dass ich es nicht selbst gekauft habe. Bliebe theoretisch die Möglichkeit, dass ich es einmal in einem antiquarischen Bücherstapel gekauft habe. Dagegen spricht, dass der Preis bereits in Euro ausgewiesen ist und das Erscheinungsjahr 2004. Auch steht kein mit Bleistift geschriebener Preis innen hinten oder auf den ersten Seiten, wie es bei meinem bevorzugten Antiquariat in der Wollzeile üblich ist. Das oben Gesagte spricht auch dagegen, dass ich es bei meiner bevorzugten Büchertauschstelle in der Kleinen Pfarrgasse mitgenommen habe. Bleibt noch, dass es mir jemand geborgt hat und ich es dann vergessen habe. Kann mich aber überhaupt nichts in diese Richtung erinnern, und wenn soetwas stattgefunden hätte, würde es mir bei all meiner chronischen Vergesslichkeit doch allmählich dämmern. Aber das geschieht nicht, mir dämmert nichts. Dass es aus der Bibliothek meiner verstorbenen Eltern stammt, schließe ich mit hoher Wahrscheinlichkeit aus. Bleibt als wahrscheinlichste Möglichkeit, dass mir jemand dieses Buch vor Jahren - sei es zu Weihnachten, sei es zu einem Geburtstag - geschenkt hat und ich es ignoriert habe. Das kommt oft vor: ich bin ein schlechter, unaufmerksamer Schenker und ein noch schlechterer,  unaufmerksamerer, gedankenloser, ignoranter, hochmütiger und undankbarer, aber immer auch ein wenig ein irritierter, überforderter, gestresster und beschämter Beschenkter, denn im tiefsten meine Seele bin ich davon überzeugt, dass mir kein Beschenktwerden zusteht, wofür auch, ich bin es nicht wert.

Als mir also dieses Buch vor Wochen zufällig (fällt einem etwas bloß zufällig zu, oder fällt einem das genau resonantisch Richtige zu?) vor meine Augen erschienen ist, hat es mich sofort interessiert, erstens weil völlig unbekannt – so einem Rätsel will ich unbedingt nachgehen, zweitens weil mich der Titel angesprochen hat; besonders auf meine Schreiberei bezogen, denn ich habe ja meinen Anblick vom Bett aus auf Bücherregal, Bilder und überhaupt mein Zimmer sowohl am Morgen als auch am Abend mindestens tausendmal beschrieben, woran mich „der gedehnte Blick“ - ich glaube, nicht zu Unrecht – erinnert hat. So habe ich das Buch aus der Bücherreihe herausgezupft und auf meinem fünfsäuligen, mindestens aus fünfzig Bücher bestehenden Stapel der zu lesenden Bücher neben meinem Bett abgelegt.

Und habe es dann tatsächlich zu lesen begonnen (die Bücher ganz oben am Stapel haben die besseren Chancen, gelesen zu werden, die unteren kann ich auch jahrelang vergessen haben). Das Buch beinhaltet – wenn ich schlecht Gebildeter das sagen darf -  gescheite, fundierte Essays und Abhandlungen eines gebildeten, belesenen Autors, dem ich – falls ich jemals anspruchsvoll denken konnte, was ich bezweifle – aber wenn doch, dem anspruchsvollem Denken längs entwöhnt und darin ungeübt - kaum folgen konnte und das bei meiner anscheinend angeborenen Tendenz, zu schnell, zu gierig, zu ungenau zu lesen, die durch meine Internetsucht noch verstärkt wurde und meine Ausdauer und Geduld noch weiter herabgeschraubt hat. Nur punktuell, eigentlich richtiger an manchen Textstellen oder Texturflecken glaubte ich etwas richtig zu verstehen, und da blitzten mir sogleich Erkenntnis, Zustimmung, Freude und Euphorie auf (ich schreib jetzt nichts über die Zweifelhaftigkeit solcher emotionaler Ausbrüche bei angeblichen Erkenntnissen. Nur das, was Don Juan Matus zu Carlos Castaneda sagt: „Hüte dich vor denen, die bei ihren Einsichten weinen, denn die haben nichts begriffen. Mach deine Erfahrungen und lass deinen Montagepunkt sich bewegen und erlaube deinen Erkenntnissen, Jahre später zu kommen“ - aus dem Gedächtnis und ungenau zitiert. Ich ignoriere das Zitat jetzt aber!).

Heute Vormittag lese ich noch im Bett einen Abschnitt, den ich als Bestätigung der „Erlaubtheit“ meiner Schreibversuche verstanden habe. Und sofort springe ich aus dem Bett, mache mich glücklich ans Werk, sitze jetzt also im Atelier und blicke durch das große Atelierfenster auf die großen, im Wind schwingenden Baumkronen.

Wohlgemerkt! Ich habe diesen Essay bestenfalls nur halb verstanden, viele Verweise und Zitate von Schriftstellern und Philosophen bleiben für mich aus Unkenntnis nicht nachvollziehbar. Und der gute Herr Genazino hat keine einzige Zeile von mir gelesen. Ich weiß also, daß die Wahrscheinlichkeit, daß ich das Gelesene falsch verstanden habe, sehr hoch ist. (Jetzt fährt der Wind „so richtig“ wild durch die Bäume.)
Und wenn ich den Essay richtig verstanden haben sollte, bleibt offen, ob die Begründung des Autors für Literatur und deren Absteckung auch für meine Schreiberei gilt. Auch das weiß ich.
Es könnte sein, dass diese Texte von Genazino mein Schreiben möglich machen, ihm ein Fundament verschaffen. Vielleicht.

Und das reicht, dass ich glücklich aufspringe: dass meine Schreiberei einen Sinn haben könnte. Sogar trotz anhaltender Scheiterei. Die Ungewissheit bleibt sowieso, aber es ist nicht von vornherein ausgeschlossen, daß es nicht bloß Unsinn ist; mag die Wahrscheinlichkeit dafür auch 0,1 Prozent betragen.











(14.5.2020)












©Peter Alois Rumpf,  Mai 2020  peteraloisrumpf@gmail.com


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