Freitag, 11. April 2025

4025 Zu viel Text

 



9:01 a.m.  Am Gestade beim Brunnen. Das polnische Institut strahlt in der Sonne auf. Ich warte auf den Zahnarzttermin. Der Autoverkehr braust und rauscht, der Brunnen plätschert, die Fußgänger schleifen manchmal mit ihren Schuhsohlen am harten Boden, ansonsten klingt es einfach wie normale Schritte, wenn sie nicht durch weiche Sohlen lautlos bleiben. Telephonierte und analoge Gesprächsfetzen gehen im allgemeinen Geräusch unter. Der Wind ist stark und frisch. Aber auch die Sonne ist stark. Zwei trinken im Freien Kaffee und rauchen. Ich gehe nun in Sachen Zähne los. Der Wind ist sehr lästig.


9:17 a.m. Dieser blöde Gesundheitsbildschirm im Wartezimmer sagt mir, wie gefährlich alles ist. Ich senke mein Gesicht ins Notizbuch, um das nicht anschauen zu müssen. Aber ohne Wahrnehmungsinput fällt mir nichts ein. Ich drehe also mein gesenktes Haupt nach links und betrachte die sechs einfachen Sessel (bundesdeutsch: Stühle), die da an der Wand aufgereiht und leer stehen. Ich weiß auch nicht, warum dieser Anblick traurig ist; sind sie an die Wand gestellt und werden erschossen? Nur nicht auf den Bildschirm schauen! auch wenn manchmal eine kleine Bewegung in den Rand meines Gesichtsfeldes rutscht. Ich erwarte bald den Aufruf. Am Tisch vor mir liegt eine dieser idiotischen Gratiszeitungen: ich hasse allein schon den Anblick dieses optisch hysterischen Geschreis: auch diesen Augenkontakt vermeiden! Ich ärgere mich, weil einer, der gerade erst hereingekommen ist und seine Karte soeben erst eingeworfen hat, vor mir aufgerufen wird, obwohl JETZT (9:30 a.m.) mein Termin ist. Kann ich mir diesen Ärger leisten? Eigentlich nicht, der kostet viel zu viel wertvolle Energie, aber meine Disziplin ist nach all diesen Augenkontaktvermeidungen Bildschirm – Krawallzeitung schon zu angestrengt, um das auch noch abzufangen.


11:25 a.m. Ich sitze nun im hinteren Raum meines Lieblingscafes - ganz spontane Entscheidung - obwohl ich mir verboten habe, öfter als ein Mal die Woche hier herzukommen. Als Strafe Gottes habe ich mir unabsichtlich einen Wassertropfen ins Notizbuch gekleckert mit der Gefahr, meine noch nicht auf die Schublade vertippte Handschrift zu verwaschen. Vielleicht sollte ich es wirklich bleiben lassen und wenigstens heute zu Fuß nach Hause gehen. Vor mir an der Wand hängt ein großes, ich glaube metallenes Dekorsegelschiff. Ein am Steinboden verschobener Sessel quietscht sehr laut. Noch einer. Neben dem Schiff hängen vier alte Hochzeitsphotos und ein Porträt. Dann kommt rechts davon der schöne, alte Ofen beziehungsweise sein Rohr in der Ecke, rechts ums Eck wieder eine metallische Segelschiffarbeit a là Fünfzigerjahredekor. Links sind drei Spiegel an der Wand, aber so hoch, dass man/frau zumindest in zwei nicht hineinschauen können. Ich werde das jetzt noch testen, dazu werde ich aufstehen, dann zum Zahlen nach vor gehen und sodann nach Hause wandern (Schön ausgedacht! Aber wie er aufgestanden ist, hatte er die Überprüfung der Hängung der Spiegel schon wieder vergessen – der innere Spötter).


12:11. Jetzt sitze ich wieder Am Gestade, einer meiner Lieblingsplätze in Wien, und schon beim Hergehen, als ich es Mittag läuten höre, hat es mich verwundert, wie sich das zeitlich ausgehen kann: um 11:25 a.m. noch im Espresso Burggasse beim Schreiben, dann den langen Weg hierher, den ich gemächlich geschlendert bin: es muß eine geheimnisvolle Zeitverschiebung stattgefunden haben, oder eine magische Autokinese – etwas wie ein Hexenflug, bei dem ich meinen physischen Körper als reine Energie mehrere hundert Meter durch die Lüfte oder durch die allgemeine, energetische Bewußtheit transportiert haben muß! (Oder er hat sich beim Notieren der Zeit geirrt, oder – noch wahrscheinlicher: er hat die Wegzeiten und Entfernungen in seiner Scheinanwesenheit völlig falsch eingeschätzt – der innere Spötter) (ich mag es überhaupt nicht, wenn er ganz banale und alltägliche Begebenheiten zu mystifizieren versucht – der innere Korrektor) (diese Mystifiziererei dient lediglich dazu, sein Ego aufzublasen und sich interessant zu machen – der innere Analytiker) (das ist eine miese Strategie! - der innere Ankläger).

Beim Vorbeigehen am Volksgarten habe ich kurz erwogen, mich dort auf eine der Bänke zu setzen, aber so viel Frühling vertrage ich alter Mann auch nicht mehr. So blicke ich abwechselnd auf das Haus der europäischen Radiologie und das polnische Institut und auf das gelbe Haus und das gelb gerahmte - die zwei dazwischen. Die Linden neben mir schlagen aus – in ein paar Tagen würden die jungen Blätter einen köstlichen Salat ergeben; jetzt sind die Blättchen noch zu klein. Der Wind ist inzwischen nicht mehr kalt, aber noch sehr stark. Weil ich heute irgendwo (Gesundheitskassenbildschirm? Zeitung? Internet?) etwas über Parkinson und seine frühen Symptome gelesen habe, fürchte ich das zu haben (der Hypochonder läßt grüßen! - der innere Spötter).

Und jetzt? Sitzen bleiben? Der Wind probiert, mir die Kappe vom Haupte zu wehen und Sand in die Augen. Ich soll nicht sehen? Ich soll nicht schauen? Das Kind läuft, der kleine Hund wird getragen und winselt, weil er mitlaufen will (Ich weiß das und habe die Szene richtig gedeutet. Es ist überprüft, denn als die Dame das Hündchen auf den Boden gesetzt hat, ist er sofort und pfeilschnell dem Buben nachgerannt). Wenn ich hier noch länger sitzen bleibe, kommt zu viel Text zusammen. Wegstreichen tu ich nichts und dann muß ich so viel eintippen! Na gut, wenn’s der Wahrheitsfindung dient. Oder der Depressionsprophylaxe. Außerdem schreib ich eh nicht alles mit, zum Beispiel wenn ich den Frauen nachgaffe. In einem Fenster sehe ich eine Kaffeemaschine stehen, oder ist es ein Wasserkocher? Wäre auch möglich. Die Holzbank quetscht langsam schon zu lange meinen Hintern. Die Fahnen am Hostel flattern im Wind. Die Mauern stehen sprachlos und sonnenbeschienen (laß doch diese blöden, infantilen Anspielungen! Du bist nicht gebildet! - der innere Korrektor). Irgendwas aus meiner Kindheit flasht undeutlich in meinen Gefühlen auf. Ich werde besser gehen. Der Wind reißt wieder an meiner Kappe.


(11.4.2025)


Peter Alois Rumpf April 2025 peteraloisrumpf@gmail.com

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