3912 Kreislaufprobleme bei Rosso
10:11 a.m. Ich bin zum wiederholten Male beim Medardo Rosso im Museum moderner Kunst im Museumsquartier und starre in die Masse dieses Bookmakers, der so schief dahängt – richtet er sich erst zu seine Macht und Größe auf? (wir sind ja noch im 19. Jahrhundert) oder fällt er, kippt er, stürzt stolz aufgerichtet und eingebildet zu Boden? Wie aus einer unbewußten Masse wächst er heraus (oder versinkt in sie), aber vielleicht ist das mit dem unbewußt voreilig: vielleicht sind es primitive, aber bewußte, pilzartige, schwammartige, massenzellteilige Wesen, die solche Gestalten mehr oder weniger deutlich hervorbringen?
Jetzt stehe ich vorm carne altrui, dem Fleisch der anderen. Das muß schon lange da liegen, denn es ist fast auskristallisiert; der Kopf, das Gesicht – wie mit beleidigten Lippen? War das ein kalter Vulkanausbruch, der das Fleisch nicht verbrannt, sondern gleich versteinert hat? Oder täuscht die Patina und das Ganze zerbröselt gleich?
Der bambino malato ist blaß, sehr blaß; sein Köpfchen kann das Kind nicht aufrecht halten, es kippt nach links (von ihm aus gesehen), die Augen hat es geschlossen. Müde ist es, der Mund von Übelkeit oder Fieber leicht geschlossen. Es will geheilt werden, braucht den Anstoß von außen. Oder sind die inneren Kräfte - ganz tief im Inneren - schon am gewinnen?
Der Sagrestano ist eingeschlafen, als ihn die Versteinerung erwischt hat (oder ereilt? Ich weiß nicht, ob das schnell oder langsam gekommen ist. Nach Fluchtversuchen schaut mir das Gesicht nicht aus). Aber wer weiß! Ich weiß es nicht.
Henri Rouart scheint aus einem Felsen geboren und da alt geworden zu sein (ich habe keinen Materialtest gemacht!), so in Richtung Kalk (scheint es). Der Mann ist alt und hat sich damit abgefunden; ob lebenssatt oder resigniert kann ich (ich, ich, ich) nicht erkennen; vielleicht müßte ich dafür einige Stunden hinschauen (Fels ist meist langsam – und ich weiß nie, was aus dem Gesehenen kommt, was aus meinen Projektionen). Ich tippe eher auf resigniert, aber in edler Haltung und Bereitschaft (aber wie gesagt, ich weiß nie …). Jetzt habe ich mich vor ihm hingekniet, um ihm besser in sein Gesicht blicken zu können (er liebt seine Inszenierungen in der Öffentlichkeit und genießt es, wenn die Aufsicht auf ihn aufmerksam wird und ihn beobachtet – der innere Spötter) – ein bißchen was Angefressenes, Ungeduldiges könnte auch da sein (aber wie gesagt …).
Bambo al sole, das Kind in der Sonne. Hm! Zweifellos eine tolle Arbeit. Hat es eine Augenentzündung? Ist das Sonnenlicht zu grell? Auch das weiß ich nicht. Freut es sich oder wurde es hinausgeschickt? („Geh raus! Die Sonne scheint! Sei kein Stubenhocker!“)? Es schaut nicht so aus, als würde es spielend herumtoben. Aber vielleicht muß es verschnaufen. Oder beobachtet oder sieht etwas, oder es ist das Material, das den Moment herausnimmt aus seiner Bewegung und fest hält (so fest ist Gips auch wieder nicht).
Vom Stehen bin ich müde und habe mich auf die lange Bank an der Rückwand gesetzt, von der aus man die Skulpturen von hinten anschaut. Eine überraschende, witzige Perspektive (ich möchte nochmals betonen, dass ich diese Ausstellung großartig finde). Durch den netzartigen Vorhang auf der anderen Seite, vor den Skulpturen – streng ausgespannt und in einem Rahmen fixiert wie eine Kinoleinwand – sieht eines den Eingangsbereich des Mumok, den hell erleuchteten Shop mit Kassa und die BesucherInnen hinausgehen, hereinkommen, herumstehen, herumgehen – wie in einem an die Wand projizierten Avantgardefilm über das Zurechtfinden in dieser Welt der Funktionalität, der drohenden Langeweile und des verlorenen Himmels.
Ich glaube, ich fahre jetzt zu den bewunderten Zeichnungen hinauf. Ein wenig betrachte ich noch die Rückseiten der Skulpturen und gegebenenfalls die metallischen oder hölzernen Stützen (guuut, jetzt fallen mir meine chronischen Rückenschmerzen ein, aber das tut nun wirklich nichts zur Sache!). Wieder das Gefühl, dass hier ein sanft absurdes Theaterstück abläuft und die BesucherInnen bezahlte SchauspielerInnen sind und ich der einzige Zuschauer (sechs Personen suchen keinen Autor – schon vorbei! Schon zu spät! Das ist schon abgehakt – sie müssen alles, alles selbst erfinden und wissen gar nicht, dass sie Theaterfiguren sind und überhaupt, dass es Theaterstücke gibt – so eine Art postmoderne „Unschuld“). Jetzt sind es nur noch zwei. Nur noch einer (mich und den Aufseher nicht mitgerechnet). Jetzt ist die Bühne leer, denn der letzte geht mit auffällig festen, kraftvollen, dröhnend-kleschenden Schritten ab. Irgendwelche Dinge – Plastik vielleicht – machen noch irgendwelche Geräusche, ebenso irgendwelche Bohraktivitäten im Haus und irgendwelche Lüftungen oder hausinterne Transporte. Stimmen kommen noch – aber völlig unverständlich – von irgendwo hinter der Bühne her oder sonstwie aus dem Off. Eine neue Welle redet und plaudert und scherzt sich näher. Und schon sind es wieder sechs Personen. Und nun noch ein paar. Und noch mehr. Ich fahre zu den Zeichnungen hinauf. (Er hat gar nicht verstanden, dass er selbst wie auch der Aufseher zum Theaterensemble gehören – der innere Spötter.)
Die Zeichnungen bin ich andächtig und verhalten feierlich abgeschritten, dafür haben sie mir die Tränen in die Augen getrieben (sie dürfen das! Danke!), begleitet von einer großen Sehnsucht (nach etwas Verlorenem? Einer verlorenen Illusion? Der Illusion, in Leben und Werk ein Künstler zu sein?). Diese Zeichnungen berühren mich in ihrer unaufdringlichen Moderne, hauen mich in ihrer schlichten Genialität um. Nun sitze ich erschöpft im Saal der Zeichnungen auf der Bank – die kleinen Zeichnungen sind zur Betrachtung zu weit weg – und warte auf eine Erleuchtung, auf etwas, das mich wirklich und nachhaltig umhaut (das Museumsquartier wirbt damit auf Plakaten, dass es hier passiert). Wenn nichts dergleichen kommt, gehe ich auf einen Kaffee. Ich bin aber in diesem Zustand der herandrängenden Wahrheiten durchaus froh; es beglückt mich schon, wenn ich bloß in deren Aura gerate. Ich bin hald (sic!) ängstlich und ein Gefäß, das Größeres nicht fassen kann.
Nun also sitze ich in diesem Café im ersten Stock über Shop und Kassenhalle vorm üppig-flachen-knausrigen Wandgemälde und der farbgespritzten Keramik und schlürfe meinen Cappuccino. Der Kaffee ist schon sehr gut und das Selfservice strange (nur Kartenzahlen möglich), aber what shell’s! Mensch Peter! Leg doch mal dein Schreibzeug weg und genieß den Kaffee und schau dich ohne diesen echten oder unechten Schriftstellerblick um!
Ein bisserl hat es geklappt. Fünf bis zehn Minuten. Und ich habe mich dabei mit dem Smartphone abgelenkt. Jetzt stinkt es hier. Chemisch. Kleber oder so. Unangenehm.
12:01. Der Zenit des Tages ist überschritten (weil mein Pilotstift spinnt, schreibe ich in Zeitlupe; ein gute Übung für Konzentration, schnelles Gedankensortieren und Loslassen und innere und äußere Geduld. Ich mache eben aus allem etwas Brauchbares auf dem Weg zur Erleuchtung! (Aha! Der Kaffee wirkt heute Egomanie und Angeberei fördernd! – der innere Spötter).
So! Jetzt ist mir der spinnerte Pilotstift zu blöd geworden und ich bin auf den gelben umgestiegen. Das wird beim Eintippen eine Herausforderung sein, weil ich die helle, gelbe Schrift kaum derlesen können werde (Wie wahr! - der Tipper). Zwischen der Unterkante des Wandbildes – diese entspricht der Plafondkante des erdgeschoßigen Eingangsbereichs – und der Kante der „Terrasse“, hier im ersten Stock, wo sich das Café befindet – sehe ich in einem schmalen Streifen die Hereinkommenden, die Herumgehenden und die Hinausgehenden, aber schräg von oben, mehr die Köpfe im Zentrum, wie schwebende Kugeln mit beweglichen Wurzeln. [Sag einmal, Peter: wieso schreibst du alles so in Kraut und Rüben? Warum ordnest du das Material (von mir aus auch das Paterial – der innere Spötter) nicht ordentlich, ich mein, das Aussortieren will ich dir gar nicht zumuten, weil ich weiß, was für ein Textmessie du bist – und damit meine ich garantiert nicht den Fußballer mit richtigem Torinstinkt – nicht einmal als assoziertem Anklang – was ich sagen will: du mutest deinen LeserInnen (und -Außen – der Spötter) schon recht viel Chaosbewältigung zu, nur weil du zu faul oder ängstlich oder schwächelnd oder unbeweglich bist, selbst das Chaos zu ordnen. Diese elendslangen Texte ohne innere Struktur und ohne Zug zum Tor! Was für ein Nudelkick! Merkst du das eigentlich? Ab nach Hause! - der innere Kritiker.] Ab nach Hause! (Gelbe Schrift Ende) Puh! Kreislaufprobleme beim Aufstehen.
(17.12.2024)
©Peter Alois Rumpf Dezember 2024 peteraloisrumpf@gmail.com
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