Montag, 11. November 2024

3857 Blue Box

 



12:06 Nervös und unruhig sitze ich im Lieblingscafé in der Burggasse, denn ich habe es nicht geschafft, zu stilleren Zeiten einzukehren (weil er verschlafen hat – der innere Verräter) und jetzt geht schon die Mittagstime los und ich sitze bloß bei einem Kaffee. Am Morgen schon war ich durcheinander und motorisch limitiert – Dinge sind mir aus der Hand gefallen – und das scheppernde Surren des altersschwachen Rasierapparats ist mir wie eine grausame Lärmattacke nah bei meinem überforderten Ohr vorgekommen. Auch hier und jetzt habe ich das Umblättern der Zeitungsseiten nur mühsam und mit großem Aufwand an Geduld hinbekommen. Nein, das wird heute kein gemütliches Herumsitzen, -schauen, -lesen, -schreiben. Ich sitze schon auf Nadeln. Schnell trinke ich den Kaffee und schnell schlinge ich die kleine Schnitte hinunter (beim Öffnen der Verpackung halte ich die Schnitte über den Kaffee, auf dass die Brösel nicht auf den Tisch, sondern ins Getränk fallen – sorgsam wie der Priester mit seinen Hostienbröseln – auf dass nichts vom Leib Christi verloren gehe und gar in den Mistkübel gelange. Ich gebe zu: ich bin voller klerikaler Gesten). Meine Nerven sind so angespannt; nur mit Müh und Not kann ich mich davon zurückhalten, aufzuspringen und aus dem Lokal zu stürzen – so schlecht ist mein Gewissen. Nur wegen dieser unterbezahlten Herumsitzerei. Aber nun ist es ernst: erst zahle ich, dann gehe ich.

12:35. Jaaa, ich bin gegangen und – man staune – in der Blue Box gelandet. Bei koffeinfreiem Kaffee (ich trau mich nicht mehr). Ich sitze auf meinem alten Stammplatz am Fenster. Zugig ist es hier von der Eingangstür her und heute sicherlich nicht der beste Platz, aber ich feiere meine Vergangenheit und bin den Tränen nahe. Der Cappuccino ist okay; das ist schon mal gut. Mir läuft ein Schauder über den Rücken, als müßte ich heute die Blue Box zan letztenmoi sehgn und mich endgültig verabschieden. Ich drehe den Kopf nach links hinten, ob ich meinen Tod, der hinter mir geduldig lauert, wahrnehme und etwas von seinen zeitnahen Plänen. Mei Blue Box geht man nit ausn Sinn, wo ich oftmois so glickli und trauri gwest bin. Tränen in meinen Augen, tatsächlich! Ich muß hier ungeheuer viel von meinen Emotionen, Hoffnungen, Erwartungen, Träumen, Enttäuschungen und Schmerzen hinterlassen haben. Vielleicht kann ich sie aus dem Lokal herausnehmen und wieder bei mir hochladen. Vermutlich jedoch – so wie es ausschaut – geht es in die andere Richtung.

Allzuviel hat sich hier, was die Raumausstattung betrifft, seit knapp vierzig Jahren nicht geändert, und das ist gut so. Langsam kriege ich mich ein (was immer das heißt! - ihm gefällt bloß diese deutsche Redewendung – der innere Spötter). Ist es überhaupt gut, die alten Orte aufzusuchen? Kommt da nur Sentimentalität heraus? Was weiß ich, vielleicht habe ich da etwas verloren, was ich dringend brauche (die Ganzheit des Selbst erreichst du so nicht – der innere Korrektor). Kunst an der Wand. Ich blicke mich im Lokal um, ob irgendwer da sein könnte, der altersmäßig zur gleichen Zeit wie ich in der Blue Box gewesen sein könnte. Nein, schaut nicht so aus; alle scheinen jünger zu sein. Puh! Ein Hauch von Einsamkeit umstreicht mich. Schon vorbei. Aber es stimmt: mit wem kann ich meine Welt – angefangen mit der katholischen Frömmigkeit meiner Kindheit, dann meiner Musicbox-Anbetung, später meinen linken Illusionen, meinen Blue-Box-Performances etcetera noch teilen? So ist das, wenn man alt wird. Ach, die Musik aus den Boxen ist immer noch gut – kennen tu ich sie nicht. Ich halte meine – ich gebe es ungern zu: nostalgischen Gefühlsaufwallungen schwer aus und werde gehen. Ich fürchte mich vor diesen Gefühlen. Die Klos scheinen vergrößert und ausgebaut. Jetzt klingt die nostalgische Überlagerung ab und es wird zu einem normalen Lokal. Fast, denn ich mußte noch den Kellner von den alten Zeiten vollquasseln. (Wer hat wen ausgeräumt?). Zeit zu gehen.


(11.11.2024)


©Peter Alois Rumpf November 2024 peteraloisrumpf@gmail.com

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