Dienstag, 3. August 2021

2362 Albertinischer Rundgang

 

Ich beginne meinen Albertinarundgang im letzten Saal der Stadt-Land-Bild-Ausstellung, und weil die Bank in Blickrichtung zum Klee hin besetzt ist, blicke ich auf den „trefflichsten Kubin“ (Zitat Klee in der Anrede in einem Brief an Kubin). Im fröhlichen, bunten Saal die opiumistische Düsternis des Zwickledter Eremiten. Ich drehe mich – wie immer, wenn diesmal auch von der anderen Seite – zu Noldes Wintersonne und blicke auch – weil es daneben und schön ist – zu Corinths Walchensee im Winter (eines meiner ersten Gedichte als frischer Theologiestudent: „Gnostisches Gedicht: Korinth, Kerinth“). Nun kann ich schräge verdreht auf Klees bunte Landschaft zwischen Winter und Frühjahr blicken. Was für eine Erleichterung, Entfaltung und Erleuchtung: diese graue Zeit so gekonnt und glaubwürdig aufzuhellen und ihre versteckten Farben heraus zu finden! Ich gehe gleich zu Weilers Batliner hinauf und werde in meinem Winkerl stehen.

Ganz, ganz schräg von einer Seitenbank am Gang aus schaut Weilers Heribert Batliner als Ehrensenator der Universität Innschbruck wie eine alte, vorzeitliche Tante aus. Das ist der verfälschende side-up-Effekt. „Does anyone here have the experience, sad music make you feel happy? Me too!“ (John Frusciante) und „Every Light Will Burn In This Well“ (John Frusciante). Eine Schlankheitskönigin geht wiegend vorbei – sich ihrer vermeinten Grazie sicher.

Ich grüße Gaughins schattengesichtige Bretonin mit dem schönroten Leiberl und stehe jetzt in meinem Trotzwinkel und genieße es gegen alle gesellschaftliche Erlaubnis, den schönen (aber längst verwesten) Arsch des Manguinschen Rückenakts anzugaffen. Dann drehe ich mich noch zum blauen Zimmer von Vuillard mit der Frau im schwarzverzierten weißen – hmm? - Bademantel? Hausmantel? So was dieser Art. Ja, die zwei Bilder sind wahre Kunst! Ich weiß nicht, ob die zarte Frau ihren Kopf aus Koketterie, aus Scham, aus Verlegenheit nach Überrumpelung, aus trauriger Resignation, aus Melancholie nach dem Sexualakt, oder brav, weil es der Maler so angeordnet hat, oder was auch immer, warum die Frau ihren Kopf so nach links neigt und ein wenig hängen läßt.

Meine erste große Erholung bei der lieben, geliebten Werefkin – da kann ich auf der Bank sitzen. Das Tier streicht durch die Winternacht, die Männer verschwinden aus der Sturmnacht in die Bar. Ich weiß nicht, was diese Bilder in meiner Seele ansprechen, vielleicht den inneren existentialistischen Streuner (in Einsamkeit und Freiheit!)? Ich drehe mich nun zu Jawleskys bunten Oberstdorfer Berg; diesmal hat der Schi-Schanzen-Zirkus keine Chance. Große grüne stille Wälder an den Berghängen, an den Gipfeln und Kuppen Licht: schlicht, aber alles ist da; nichts fehlt.

Auf lässig und kuhl, die Hände in den Hosentaschen, stehe ich vor dem angedunkelten Dresden und ich spüre große Trauer. Das Bild ist aus dem Jahr, in dem mein Vater geboren wurde. Er und seine Banden haben so viel zerstört: das, was all die Erneuerer und Reformer auf allen Gebieten für die Gesellschaft erschlossen haben: für diese dumme Generation vergeblich! Sie haben alles zurückgemordet. London wirkt fröhlich und wie erlöst. Vielleicht hat Kokoschka 1926 in prophetischer, empfundener Vorschau geahnt, dass er, der „Entarteste der Entarteten“, dort Zuflucht finden wird. Ximena Sariňana singt ihre wunderschönen Lieder. Vor mir hängt Kokoschkas Ansicht von Vernes-les-Bains; ich schlage meinen Blick durch den dunklen grünen wulstigen Wald und entdecke erst allmählich die zarte Stadt dahinter. Und immer zieht mein Blick nach London hinüber. Und wieder zurück in das üppige Grün, das von irdischerem Leben zeugt.

Meine traditionelle kapellarrische Rast vorm depperten Kardinal, dem Bübchen in Amtsüberforderung. Dahinter ganz passend der Klee'sche Clown. Nun sind alle weg und ich sitze allein im großen Spiegel. Aber nur kurz (vermutlich sind hier viele Narzissten und oder Müde unterwegs), dann gesellt sich ein Zweiter auf die Bank und betrachtet und photographiert sich in der Spiegelwand. Ja, auch ich finde mich großartig; schön anzuschauen: gebildet und intelligent und sogar weltgewandt wirkend - ich trage doch das ererbte Gewand vom erfolgreichen Bonusonkel Helmut – aufgepopt mit meinem beschrifteten T-Shirt und den Zöpfchen und die selbstbemalte Maske, dazu die seriös und ernsthaft aussehende Lesebrille. So kann ich leicht brillieren. Ein schöner, toller Mann sitzt mir im Spiegel gegenüber! Ein fescher Zapfen! Der hat alle Chancen: im Leben, zu Erfolg und Reichtum und bei den Frauen! Das rote Lesezeichenbändchen meines wertvollen Notizbuches liegt zufällig exakt auf der Bügelfalte meines rechten Hosenbeins, dessen fleischliches Bein ich über das linke geschlagen habe. Wenn das kein Omen ist! Ein Omen, dass mir alles vorhin Gesagte bestätigt! Wau! Die Götter (Innen) sind mir wohlgesonnen! Ich gehe weiter.

Aber die Bescheidenheit des freundlichen Arbeiters von Marie-Louise von Motesiczky, bei dem ich mich wieder gerne niedergelassen habe, ist auch nicht schlecht. Zum ersten Mal bemerke ich, dass er auch einen schönen Schatten hat. Seine großen Hände liegen auf seinen Knien – sein Handeln ist in Kontakt mit seiner Bestimmung.

Nun sitze ich mit dem Rücken zu meinem blauen Lieblingschagall und zum ersten Mal betrachte ich – sehr angetan! - die Komposition von Alexander Rodtschenko. Ich bin baff! Wie konnte ich das Bild bisher übersehen? Mein Blick gleitet rüber zu Aristarch Lentulows roten Brücke von Zarizyno, die mich heute auch beeindruckt. Eine neue Ecke! Und mit Sitzbank. (im MP3 schweißt John Frusciante elektrisch). Auf und der Goas nach! Entschuldigung für diesen Rustikalismus! Beim Aufstehen von der Bank habe ich mich nach links gedreht und die Ziege in Chagalls blauem Papierdrachenbild erblickt.

Giacomettis Amenophis steht breit da, aber sein schillender Schatten ist ganz schmal. Bei den vier Frauen auf Sockel wundert es mich nicht. Ich schaue von ihren Schatten zu den Figuren. Ich verweile kurz bei Anette und länger bei seiner Landschaft, die ich so liebe. Auch sie bloß – und das ist das Tolle – eine nervöse Skizze über die Unendlichkeit geworfen. Das ist das Wirkliche.

Meine letzte Rast bei den feisten, aber gar nicht so prallen Sphinxen. Ich nehme Anlauf zum vorbestimmten Gang durch den Shop und zur Heimreise in mein glückliches Zimmer.

 

(3.8.2021)

 

©Peter Alois Rumpf   August 2021   peteraloisrumpf@gmail.com


0 Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Abonnieren Kommentare zum Post [Atom]

<< Startseite