2362 Albertinischer Rundgang
Ich beginne meinen Albertinarundgang im letzten Saal der
Stadt-Land-Bild-Ausstellung, und weil die Bank in Blickrichtung zum Klee hin
besetzt ist, blicke ich auf den „trefflichsten Kubin“ (Zitat Klee in der Anrede
in einem Brief an Kubin). Im fröhlichen, bunten Saal die opiumistische
Düsternis des Zwickledter Eremiten. Ich drehe mich – wie immer, wenn diesmal
auch von der anderen Seite – zu Noldes Wintersonne und blicke auch – weil es
daneben und schön ist – zu Corinths Walchensee im Winter (eines meiner ersten
Gedichte als frischer Theologiestudent: „Gnostisches Gedicht: Korinth,
Kerinth“). Nun kann ich schräge verdreht auf Klees bunte Landschaft zwischen
Winter und Frühjahr blicken. Was für eine Erleichterung, Entfaltung und
Erleuchtung: diese graue Zeit so gekonnt und glaubwürdig aufzuhellen und ihre
versteckten Farben heraus zu finden! Ich gehe gleich zu Weilers Batliner hinauf
und werde in meinem Winkerl stehen.
Ganz, ganz schräg von einer Seitenbank am Gang aus schaut
Weilers Heribert Batliner als Ehrensenator der Universität Innschbruck wie eine
alte, vorzeitliche Tante aus. Das
ist der verfälschende side-up-Effekt. „Does anyone here have the experience,
sad music make you feel happy? Me too!“ (John Frusciante) und „Every Light Will
Burn In This Well“ (John Frusciante). Eine Schlankheitskönigin geht
wiegend vorbei – sich ihrer vermeinten Grazie sicher.
Ich grüße Gaughins schattengesichtige Bretonin mit dem
schönroten Leiberl und stehe jetzt in meinem Trotzwinkel und genieße es gegen
alle gesellschaftliche Erlaubnis, den schönen (aber längst verwesten) Arsch des
Manguinschen Rückenakts anzugaffen. Dann drehe ich mich noch zum blauen Zimmer
von Vuillard mit der Frau im schwarzverzierten weißen – hmm? - Bademantel?
Hausmantel? So was dieser Art. Ja, die zwei Bilder sind wahre Kunst! Ich weiß
nicht, ob die zarte Frau ihren Kopf aus Koketterie, aus Scham, aus Verlegenheit
nach Überrumpelung, aus trauriger Resignation, aus Melancholie nach dem
Sexualakt, oder brav, weil es der Maler so angeordnet hat, oder was auch immer,
warum die Frau ihren Kopf so nach links neigt und ein wenig hängen läßt.
Meine erste große Erholung bei der lieben, geliebten
Werefkin – da kann ich auf der Bank sitzen. Das Tier streicht durch die
Winternacht, die Männer verschwinden aus der Sturmnacht in die Bar. Ich weiß
nicht, was diese Bilder in meiner Seele ansprechen, vielleicht den inneren
existentialistischen Streuner (in Einsamkeit und Freiheit!)? Ich drehe mich nun
zu Jawleskys bunten Oberstdorfer Berg; diesmal hat der Schi-Schanzen-Zirkus
keine Chance. Große grüne stille Wälder an den Berghängen, an den Gipfeln und
Kuppen Licht: schlicht, aber alles ist da; nichts fehlt.
Auf lässig und kuhl, die Hände in den Hosentaschen, stehe
ich vor dem angedunkelten Dresden und ich spüre große Trauer. Das Bild ist aus
dem Jahr, in dem mein Vater geboren wurde. Er und seine Banden haben so viel
zerstört: das, was all die Erneuerer und Reformer auf allen Gebieten für die
Gesellschaft erschlossen haben: für diese dumme Generation vergeblich! Sie
haben alles zurückgemordet. London wirkt fröhlich und wie erlöst. Vielleicht
hat Kokoschka 1926 in prophetischer, empfundener Vorschau geahnt, dass er, der
„Entarteste der Entarteten“, dort Zuflucht finden wird. Ximena Sariňana singt
ihre wunderschönen Lieder. Vor mir hängt Kokoschkas Ansicht von
Vernes-les-Bains; ich schlage meinen Blick durch den dunklen grünen wulstigen
Wald und entdecke erst allmählich die zarte Stadt dahinter. Und immer zieht
mein Blick nach London hinüber. Und wieder zurück in das üppige Grün, das von
irdischerem Leben zeugt.
Meine traditionelle kapellarrische Rast vorm depperten
Kardinal, dem Bübchen in Amtsüberforderung. Dahinter ganz passend der Klee'sche
Clown. Nun sind alle weg und ich sitze allein im großen Spiegel. Aber nur kurz
(vermutlich sind hier viele Narzissten und oder Müde unterwegs), dann gesellt
sich ein Zweiter auf die Bank und betrachtet und photographiert sich in der
Spiegelwand. Ja, auch ich finde mich großartig; schön anzuschauen: gebildet und
intelligent und sogar weltgewandt wirkend - ich trage doch das ererbte Gewand
vom erfolgreichen Bonusonkel Helmut – aufgepopt mit meinem beschrifteten
T-Shirt und den Zöpfchen und die selbstbemalte Maske, dazu die seriös und
ernsthaft aussehende Lesebrille. So kann ich leicht brillieren. Ein schöner,
toller Mann sitzt mir im Spiegel gegenüber! Ein fescher Zapfen! Der hat alle
Chancen: im Leben, zu Erfolg und Reichtum und bei den Frauen! Das rote
Lesezeichenbändchen meines wertvollen Notizbuches liegt zufällig exakt auf der
Bügelfalte meines rechten Hosenbeins, dessen fleischliches Bein ich über das
linke geschlagen habe. Wenn das kein Omen ist! Ein Omen, dass mir alles vorhin
Gesagte bestätigt! Wau! Die Götter (Innen) sind mir wohlgesonnen! Ich gehe
weiter.
Aber die Bescheidenheit des freundlichen Arbeiters von
Marie-Louise von Motesiczky, bei dem ich mich wieder gerne niedergelassen habe,
ist auch nicht schlecht. Zum ersten Mal bemerke ich, dass er auch einen schönen
Schatten hat. Seine großen Hände liegen auf seinen Knien – sein Handeln ist in
Kontakt mit seiner Bestimmung.
Nun sitze ich mit dem Rücken zu meinem blauen
Lieblingschagall und zum ersten Mal betrachte ich – sehr angetan! - die
Komposition von Alexander Rodtschenko. Ich bin baff! Wie konnte ich das Bild
bisher übersehen? Mein Blick gleitet rüber zu Aristarch Lentulows roten Brücke
von Zarizyno, die mich heute auch beeindruckt. Eine neue Ecke! Und mit
Sitzbank. (im MP3 schweißt John Frusciante elektrisch). Auf und der Goas nach!
Entschuldigung für diesen Rustikalismus! Beim Aufstehen von der Bank habe ich
mich nach links gedreht und die Ziege in Chagalls blauem Papierdrachenbild
erblickt.
Giacomettis Amenophis steht breit da, aber sein schillender
Schatten ist ganz schmal. Bei den vier Frauen auf Sockel wundert es mich nicht.
Ich schaue von ihren Schatten zu den Figuren. Ich verweile kurz bei Anette und
länger bei seiner Landschaft, die ich so liebe. Auch sie bloß – und das ist das
Tolle – eine nervöse Skizze über die Unendlichkeit geworfen. Das ist das
Wirkliche.
Meine letzte Rast bei den feisten, aber gar nicht so prallen
Sphinxen. Ich nehme Anlauf zum vorbestimmten Gang durch den Shop und zur
Heimreise in mein glückliches Zimmer.
(3.8.2021)
©Peter
Alois Rumpf August 2021 peteraloisrumpf@gmail.com
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